Genuss und Gesundheit

10.05.2020

„Sach­li­che Auf­klä­rung ja, Ver­bote nein“

Genussmittel wie Tabak und Alkohol sind ungesund. Von Verboten hält Ernährungssoziologe Daniel Kofahl aber nichts. Auch Askese habe negative Effekte.

Herr Kofahl, wenn Ihnen jemand sagen würde, dass er raucht, regelmäßig ein Bier trinkt und gern in die Chipstüte greift: Was würden Sie über diese Person denken?

DANIEL KOFAHL: Dass der Genuss in seinem Leben einen hohen Stellenwert besitzt. Und dass er sehr mutig sein muss, wenn er das in dieser Offenheit öffentlich sagen würde.

Wieso mutig? Darf man nicht mehr zu seinen Lastern stehen?

KOFAHL: Definitiv: nein. Es hat ein Stigmatisierungsprozess eingesetzt, der verschiedene Gruppen betrifft. Dazu gehören Raucher und Menschen, die über das gesellschaftlich akzeptierte Maß hinaus Alkohol trinken. Aber auch jene, die einfach gern Fleisch oder Süßigkeiten essen.

Woher kommt das?

KOFAHL: Der Argwohn hat verschiedene Gründe. Die besondere Dynamik geht aber sicherlich auf den aktuellen Gesundheitsdiskurs zurück, der jeden einzelnen zur Selbstvorsorge und Selbstdisziplin erzieht. Und der diejenigen, die sich verweigern, in Haftung nimmt. Denn ihnen wird ja vorgeworfen, durch ihr vermeintliches Fehlverhalten nicht nur sich zu schädigen, sondern auch die Gemeinschaft, etwa indem sie nicht das von ihnen erwartete Leistungsniveau erbringen, Konventionen infrage stellen oder Unkosten verursachen, für welche die Gemeinschaft aufkommen muss.

Ist die soziale Ächtung bestimmter Verhaltensweisen ein neues Phänomen?

KOFAHL: Nein, so etwas taucht immer in Wellen auf. Ähnliche Bestrebungen gab es beispielsweise im Viktorianischen Zeitalter, als man die ausschweifende Sexualität zurückdrängen wollte. Oder zur Zeit der Prohibition in den USA mit dem Verbot des Alkohols. Diese Eingriffe waren damals stark mit Moral verknüpft. Heute geht zwar immer noch um Moral, zusätzlich jedoch auch darum, die Leistungsfähigkeit des Menschen zu optimieren. Diesem Ziel hat sich alles unterzuordnen.

Rauchen, Fettleibigkeit oder Alkoholkonsum verkürzen aber nun erwiesenermaßen die Lebenserwartung. Sollte der Staat aufgrund seiner Fürsorgepflicht nicht dafür sorgen, dass sich die Menschen gesünder ernähren, um möglichst lange zu leben?

KOFAHL: Ein langes Leben ist für die meisten ein schönes Ziel. Und ich finde auch, dass der Staat in der Verantwortung steht, über die Gesundheit aufzuklären. Vor allem bei Kindern, die noch nicht in der Lage sind, eigenverantwortlich zu handeln, gilt es auch, eine Fürsorgepflicht wahrzunehmen. Erwachsenen sollte man die Entscheidung aber selbst zutrauen. Es gibt eben Menschen, für die ist Gesundheit nicht der zentrale Wert im Leben. Für sie geht es auch um Genuss, Gemeinschaft, Geselligkeit oder Tradition – Dinge, die mit einer Zigarette oder einem Glas Wein auch verbunden sein können. Deshalb sage ich: sachliche Aufklärung ja, Verbote nein.

Der Gesundheitsdiskurs wird ja nicht nur von Politikern oder Ärzten bestimmt. Fußt der Argwohn gegenüber allem vermeintlich Ungesunden nicht auf einem generellen gesellschaftlichen Trend zur Selbstoptimierung?

KOFAHL: Der Staat ist nicht der einzige Akteur, das stimmt. Die Versicherungswirtschaft, die Krankenkassen oder Medien sind ebenfalls daran beteiligt. Und es gibt eine Populärkultur, die den Gesundheits- und Leistungsdiskurs stark moralisch prägt. Wenn Instagramer oder Filmstars damit prahlen, wieviel Gewicht sie abgenommen haben oder worauf sie gerade verzichten, hinterlässt das bei ihren Fans großen Eindruck. All das führt letztlich zu ungewollten Ausbrüchen aus dem Askesekorsett, die den gegenteiligen Effekt haben.

Welche sind das?

KOFAHL: Einerseits zum Beispiel ziemlich lustlose Fressanfälle oder dumme Formen des über die Stränge schlagens. Andererseits entwickeln immer mehr Menschen etwa Essstörungen. Auch psychosoziale Probleme nehmen zu, weil viele Frauen und Männer mit ihrem Aussehen unzufrieden sind. Und dann gibt es diejenigen, die Sport treiben – aber in einem Ausmaß, das längst nicht mehr gesund ist. Oder die zu Nahrungsergänzungsmitteln greifen, bei denen die langfristigen gesundheitlichen Folgen auch noch unklar sind. Das alles sind aus meiner Sicht Effekte, die aus der strengen Selbstdisziplin und dem ängstlichen Genussverzicht herrühren.

Mit der permanenten Selbstvermessung durch Smartwatches oder Fitness-Tracker könnte es noch schlimmer werden.

KOFAHL: Bei diesen Geräten bin ich zwiegespalten. Auf der einen Seite findet da eine sehr simple Form der Selbstkontrolle statt, die der Komplexität des Themas nicht gerecht wird. Das reine Kalorienzählen blendet zum Beispiel andere Erkenntnisse aus der Ernährungswissenschaft völlig aus, etwa, dass zu einer gesunden Ernährung auch eine vollwertige Kost und Genuss am Essen gehört.

Aus emanzipatorischer Sicht halte ich die Geräte aber durchaus für sinnvoll. Jeder kann sich damit über medizinisch relevante Körperwerte informieren, ohne einen Arzt konsultieren zu müssen. Sie fördern somit das selbstbestimmte Handeln – gerade auch im Sinne einer hedonistischen Selbstreflexion.

Was meinen Sie damit?

KOFAHL: Fitness-Tracker können uns gewissermaßen einen Schuss vor den Bug abgeben, falls man sich zu sehr gehen lassen sollte. Aber sie zeigen gelegentlich auch, dass manches Handeln gar nicht die erwarteten unerwünschten, sondern sogar positive Folgen haben kann. Das Leben ist einfach sehr komplex und lässt sich nicht immer in ein simples „Das ist gut, das ist schlecht!“ einteilen. Viele wundervolle Speisen wären nicht entwickelt worden, wenn die Menschen immer so gedacht hätten.