Keine Lust auf Versteckspiel
Die Akzeptanz von Lesben und Schwulen ist gestiegen. Dennoch verbergen viele von ihnen im Alter ihre sexuelle Neigung – aus Angst vor Ausgrenzung.
Bernd Gaiser hat eine schöne Wohnung: 48 Quadratmeter, zwei Etagen, lichtdurchflutet, Balkon mit Blick über die Dächer Berlins. Deckenhohe Bücherregale verraten, dass hier eine Leseratte lebt, die zahlreichen gerahmten Fotos an den Wänden zeigen, wen der 72-Jährige bewundert: den Filmstar James Dean, bekannte schwule Schriftsteller und seinen ehemaligen Lebenspartner, der leider schon verstorben ist.
Wenn Bernd Gaiser nicht allein sein will oder Mitstreiter für einen Kinoabend sucht, ist immer jemand da. Denn seine Wohnung ist Teil des „Lebensort Vielfalt“, eines deutschlandweit einzigartigen Mehrgenerationenhauses im Berliner Stadtteil Charlottenburg. Ältere und jüngere schwule Männer sowie lesbische und heterosexuelle Frauen leben hier auf fünf Etagen zusammen. Es gibt Wohnungen für Singles, für Paare und eine separate Wohngemeinschaft, in der pflegebedürftige Bewohner rund um die Uhr betreut werden. Insgesamt sind sie 35; der Jüngste ist 25 Jahre alt, der Älteste 75.
Offen und selbstbestimmt – auch im Alter
„Ich habe mir schon mit Mitte 50 Gedanken über das Leben im Alter gemacht. Mir war klar: Du hast keine Kinder, du musst das selbst organisieren“, erzählt Gaiser. Der Eintritt in die Rente war für den ehemaligen Buchhändler ein Wendepunkt, ein Startschuss, sein Leben nochmal komplett umzukrempeln. Er begann, sich ehrenamtlich für das Thema „Homosexualität im Alter“ zu engagieren und traf Gleichgesinnte, die sich wie er die Frage stellten: Wie will ich im Alter leben? Einhellige Antwort: offen und selbstbestimmt, ohne etwas verstecken oder sich selbst verleugnen zu müssen. 2012 eröffneten sie zusammen mit der Berliner Schwulenberatung den „Lebensort Vielfalt“, ihr neues Zuhause, in dem sie so sein können, wie sie sind.
Schätzungen zufolge leben in Deutschland rund 1,8 Millionen homosexuelle Menschen über 60. Sie gehören zu einer Generation, die in ihrer Jugend abgelehnt, offen diskriminiert und per Gesetz verfolgt wurde. Bis 1969 drohten laut Paragraf 175 des Strafgesetzbuches fünf Jahre Gefängnis, wurde man der „Unzucht zwischen Männern“ überführt. „Diese Repressionen und erlebte Intoleranz haben bis heute Einfluss auf das Selbstbild und die Identität der Betroffenen“, sagt Markus Ulrich, Pressesprecher des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD). „Bis heute empfinden viele Ältere eine sehr große Scham.“ Nicht selten wurden gesellschaftskonforme Fassaden aus Lügen und Scheinehen aufgebaut.
Darf ich mich im Pflegeheim outen?
Auch Bernd Gaiser hat solche Erfahrungen gemacht, sich jedoch für einen Weg ohne Scham entschieden. Mit Anfang 20 entfloh er dem Mief und der Enge seiner kleinbürgerlichen Heimatstadt in Richtung Berlin. „In meiner Familie wurde mein Schwulsein totgeschwiegen. Wenn das Thema darauf kam, ging meine Mutter immer in die Küche abwaschen“, erzählt Gaiser. In der Hauptstadt war für ihn Schluss mit dem Versteckspiel. Er wurde Teil der Studentenbewegung der 60er-Jahre, demonstrierte für die Abschaffung des Paragrafen 175 und organisierte 1979 den ersten Christopher Street Day (CSD) mit. Heute, Jahrzehnte später, gehört er zur ersten Generation von „Golden Gays“, die auch im Alter keine Lust auf Unsichtbarkeit hat.
Auch wer seine sexuelle Orientierung stets offen ausgelebt hat: Wenn im Alter Abhängigkeiten entstehen, kommt die Furcht vor Ablehnung und Stigmatisierung nicht selten wieder hoch. Laut einer Studie lebt über die Hälfte der über 44-jährigen Schwulen in keiner festen Beziehung. Wird dann ein Umzug in ein Seniorenheim unausweichlich oder muss ein ambulanter Pflegedienst engagiert werden, treten die alten Ängste oft erneut zutage. Kann ich mich outen, ohne schief angeschaut zu werden? Kann ich das Foto meines Lebenspartners auf den Nachtisch stellen? Kann mich als schwuler Mann ein junger Pfleger betreuen, ohne dass getuschelt wird oder sich dieser dabei sogar unwohl fühlt? Obwohl sich gesellschaftlich viel getan hat – man denke an die Gleichstellung in Sachen Erbrecht oder Witwenrente –, sind solche Bedenken nicht unberechtigt. So ergab eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) 2016, dass es fast 40 Prozent der Befragten missbilligen, wenn sich zwei Männer in der Öffentlichkeit küssen. Bei Heteropaaren waren es nur gut zehn Prozent.
Homosexuelle? Das Problem haben wir hier nicht.
Statistiken gehen davon aus, dass rund fünf Prozent der in Heimen lebenden Personen homosexuell sind. Nimmt man die Dunkelziffer der Ungeouteten hinzu, sind es wohl noch mehr. In der Praxis wird das Thema hingegen gern weggedrückt. Als die Schwulenberatung Berlin 2010 ein Qualifikationsprogramm zur Sensibilisierung von Pflegekräften anbot, gaben 90 Prozent der Einrichtungen an, „dieses Problem nicht zu haben“.
„Es wird oft grundsätzlich erst mal davon ausgegangen, dass alle heterosexuell sind“, bemängelt Markus Ulrich vom LSVD. Oft fehle es an speziellen Angeboten und einer lockeren Ansprache, die verschiedene Lebensstile berücksichtigt und die stressige Situation des Coming-outs überflüssig macht. Der sogenannte „Regenbogenschlüssel“ sei dabei schon ein guter erster Schritt. Heime, die dieses Gütesiegel tragen, zeigen deutlich sichtbar nach außen, dass alle sexuellen Identitäten willkommen sind und respektvoll mit Biografien umgegangen wird. Bisher haben sich deutschlandweit nur zwei Einrichtungen damit zertifizieren lassen.
Altersruhesitze wie den „Lebensort Vielfalt“ kann man in Deutschland an einer Hand abzählen. Dabei ist der Bedarf da: „Gerade bauen wir ein zweites Haus. Auf unserer Warteliste stehen 400 Interessenten – der jüngste ist 35 Jahre“, erzählt Bernd Gaiser. „Eine Entwicklung ist im Gange, wir werden schließlich alle immer älter. Auch die Offenheit und das Bewusstsein in Senioreneinrichtungen, dass unter den Bewohnern auch Schwule und Lesben sind, wächst langsam, aber es wächst.“
Freundschaften im Alter ungemein wichtig
Gern wäre Bernd Gaiser auch zu zweit alt geworden, natürlich. Doch es hat nicht sollen sein: Drei seiner langjährigen Lebenspartner hat er durch den HI-Virus verloren. Einsamkeit sei ein großes Thema unter älteren Homosexuellen. Gaiser kennt einige Beispiele von schwulen Männern, die nach dem Eintritt in die Rente den Kontakt zur Community verlieren und isoliert in ihrer Wohnung hocken. Umso wichtiger sei es, aktiv zu bleiben, Freundschaften zu pflegen und sich eine „Ersatzfamilie“ aufzubauen. Viele Freunde hat er unter seinen Mitbewohnern gefunden. Man unterstützt sich im Alltag, besucht zusammen Ausstellungen, werkelt im hauseigenen Garten, kocht gemeinsam, geht wandern oder organisierte Veranstaltungen wie die Modenschau „Gay Not Grey“. Einen Facebook-Account hat er natürlich auch.
Was ihm manchmal fehle, sei der Kontakt zwischen den Generationen: „Die Jüngeren sind meist unter sich, Berührungspunkte gibt es kaum.“ Er und andere ältere Schwule versuchen, das zu ändern, wollen sichtbarer werden. Durch Gesprächskreise und ihre Präsenz auf dem CSD. Wie schon 1979 ist Bernd Gaiser auch heute jedes Jahr auf der Straßenparade mit dabei. Seine „Gruppe 50plus“ ist schon 60 Mann stark – Tendenz steigend.