Brasilien: Ein Land im Jugendwahn wird älter
Der demografische Wandel wird Brasilien in Zukunft stark treffen. Vorbereitet ist das größte Land Lateinamerikas darauf noch nicht.
Frauen in knappen Bikinis räkeln sich in der Sonne. Die Brüste wohlgeformt, die Hinterteile knackig. Daneben Männer mit durchtrainierten Oberarmen und Sixpacks – eines definierter als das andere. Alle schön, alle jung. Wer an die Copacabana denkt, Rio de Janeiros berühmten Strand im gleichnamigen Stadtteil, hat wahrscheinlich vor allem diese Bilder im Kopf. Der Küstenabschnitt ist ein Mythos, ein Synonym für Schönheit, Perfektion und vor allem: Jugend.
Die Copacabana ist ein feinsandiger Laufsteg, das stimmt. Aber gleichzeitig ist diese Vorstellung nur die halbe Wahrheit. Denn Rio de Janeiro besitzt die älteste Stadtbevölkerung ganz Brasiliens. Rund zehn Prozent ihrer Bewohner sind älter als 60 Jahre – die meisten von ihnen leben im Stadtteil Copacabana. „Das erkennt man zum Beispiel an der hohen Dichte an Apotheken und Hundeschönheitssalons“, sagt Dawid Danilo Bartelt, der als Leiter des Brasilien-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung viele Jahre in Rio lebte. Vor allem vormittags, so erzählt er, sei der Strand fest in der Hand der Älteren, die hier sehr aktiv sind: schwimmen, joggen, an Trimmgeräten trainieren.
Lebenserwartung steigt von 51 auf 82 Jahre
Brasiliens Bevölkerungsstruktur wandelt sich gerade tiefgreifend, nicht nur in Copacabana. Lag die Geburtenrate 1960 noch bei 6,2, bekommen Frauen heute im Schnitt gerade einmal noch zwei Kinder. Die Kindersterblichkeit nahm um fast vier Fünftel ab, gleichzeitig steigt die Lebenserwartung im Erwachsenenalter rasant: von 51,2 (1960) auf 81,7 Jahre (2050). Vor allem in Großstädten wie Brasilia, São Paulo oder Rio de Janeiro ist die demografische Entwicklung schon heute mit der in der westlichen Welt vergleichbar.
„Noch hat Brasilien allerdings kein Bewusstsein von sich als eine alternde Gesellschaft“, sagt Bartelt. Noch betrachte man sich als „País jovem“, Portugiesisch für das „jugendliche Land“, in dem die Gesinnung weitverbreitet ist, das Älterwerden gänzlich zu verleugnen. So ist Brasilien nach den USA das Land, in dem die meisten Schönheitsoperationen vorgenommen werden. Fettabsaugung, Brustvergrößerung oder Facelifting: Allein 2015 wurden mehr als 1,2 Millionen Eingriffe durchgeführt. Nirgends ist der Verbrauch von Botox, Haarfärbemitteln und Antifaltencremes so hoch wie zwischen Amazonas und Zuckerhut. Vor allem für Frauen ist der Körper Kapital, ein Instrument für den sozialen Aufstieg, das häufig über die Chancen auf dem Heirats- oder Arbeitsmarkt mit entscheidet.
Mit Skalpell und Spritzen gegen das Altern
Was in der westlichen Welt die Kleidung ist, ist in Brasilien der Körper. „Nur ein Körper, der frei von Altersfalten und Runzeln, Dehnungstreifen, Zellulitis, Flecken und Fett ist, gilt in Brasilien als ‚anständig‘ angezogen“, sagt die brasilianische Anthropologin Mirian Goldenberg. Kommt er aus der Mode, investieren selbst weniger Betuchte in die Bekämpfung der Schwerkraft, nehmen Kredite auf oder sparen sich die Eingriffe vom Munde ab. So ist Altsein weniger eine Frage der Lebensjahre als der Einkommenssituation. Alt werden nur die Armen, Vermögende hingegen zählen sich weiterhin zu den Jungen.
Doch während deren Anteil sinkt, wird jener der Menschen über 65 bis 2050 von derzeit zehn auf 30 Prozent angewachsen sein. Insbesondere das Rentensystem ignoriert diese Entwicklung und droht schon heute zu kippen. So ist Brasilien, obwohl das gesetzliche Renteneintrittsalter für Frauen bei 60 und für Männer bei 65 Jahren liegt, Weltmeister bei den Frühpensionierungen. Vor allem höhere Beamte gehen nicht selten bereits mit Anfang, Mitte 50 in den Ruhestand – und das ohne Abschläge. 13 Prozent der Wirtschaftskraft wandern in Pensionszahlungen, weit mehr als in den reichsten Ländern Europas.
Schlechte Lebensbedingungen für Senioren
Demgegenüber steht ein riesiger informeller Sektor. Über die Hälfte aller Erwerbstätigen – Kleinunternehmer, Straßenhändler und Schwarzarbeiter in allen möglichen Bereichen –, die überhaupt nichts in die Rentenkasse einzahlen und somit keinerlei Anspruch auf Altersvorsorge haben. Erst seit Kurzem ist die Masse der Hausausgestellten sozialversichert, bekommen die zahlreichen Tagelöhner in den ländlichen Gebieten eine Mindestrente.
Mit kleinen Gesten zollt der Staat der wachsenden Zahl der Alten per Gesetz Respekt. So etwa mit Extraschlangen in Banken für Menschen über 60 oder der stillen Übereinkunft, dass sich Ältere an Supermarktkassen vordrängeln dürfen. Doch solche Maßnahmen werden nicht ausreichen, um Brasilien durch das Zeitalter der Senioren zu führen. Es mangelt sowohl an bezahlbaren Pflegeeinrichtungen als auch an einer gut funktionierenden Gesundheitsversorgung. Ohnehin scheint das vierte Lebensalter so gut wie nicht zu existieren. „Die Hochbetagten sind eher versteckt, in den Städten sieht man sie eigentlich nirgends“, so Bartelt. Wie auch? Zählt doch der öffentliche Raum des lateinamerikanischen Landes zu den altersunfreundlichsten der Welt. Rücksichtsloses Verkehrsgewirr, kaputte Bürgersteige, hohe Kriminalität – wer gebrechlich ist, kann sich hier nicht mehr wirklich bewegen. So ist es noch immer die Familie, die besonders in den Favelas und auf dem Land im Alter Rückhalt gibt. „Wie liebevoll miteinander umgegangen wird, ist beeindruckend. Respekt ist ein spezifisches Kapital, das man in Brasilien mit dem Alter erwirbt“, sagt Bartelt.
Großer Respekt gegenüber Älteren
Dass das Altern ein Thema mit wachsender Bedeutung ist, erkennen auch zunehmend die Macher der Telenovelas, jener landesweit enorm beliebten Seifenopern, die einen großen Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse haben. Sie handeln von mehrgenerationellen Familien, in denen auch das Leben der Großeltern, ja selbst Liebe Ü60, mehr und mehr zum Plot gehört. Sowieso bringe die Gesellschaft eine überaus positive Haltung gegenüber Älteren mit, findet Brasilien-Kenner Bartelt: „Was mich immer fasziniert hat, ist die so gut wie nicht vorhandene Altersdiskriminierung. In Rio ist es völlig normal, dass sich auch in den angesagten Bars und Restaurants die verschiedenen Generationen treffen.“
Und: Vor allem für Frauen sei das Älterwerden mit einer neuen Freiheit verbunden. In einem Land wie Brasilien, in dem noch immer die traditionelle Rollenverteilung vorherrscht, die Frau sich allein um Kinder und Haushalt kümmert, kann diese Lebensphase mit Selbstbestimmung einhergehen. Von den Mutterpflichten entbunden und vom Zwang der sexuellen Attraktivität befreit, sind sie zum ersten Mal wieder Herrinnen über ihr Leben und ihre Zeit, können machen, wonach ihnen der Sinn steht. Zum Beispiel Fitness an der Copacabana.