Wie Wohnen mit Oma funktionieren kann
In Deutschland gibt es immer weniger Mehrgenerationenhaushalte. Für das Verhältnis zwischen Alt und Jung kann das nur gut sein, sagen Experten. Einige haben aber auch wieder Lust auf „alle unter einem Dach“.
Vor zwei Jahren haben Mareike und Johannes Keller ein, wie sie sagen, „Experiment“ gewagt: In das leer stehende Zimmer ihrer Wohnung ist Johannes‘ Mutter Brigitte eingezogen. Seit ihrer Scheidung lebte die 64-Jährige allein, in einem Dorf fast 500 Kilometer von ihrer Familie entfernt. „Die Bahnstrecke kannte ich im Schlaf. Mindestens zwei Mal im Monat bin ich hin und her gependelt“, erinnert sich Brigitte. Vor allem um ihre 4-jährige Enkelin Lea zu sehen und deren Eltern im Alltag etwas zu entlasten. „Irgendwann abends beim Wein kam uns der Gedanke: ‚Mensch Mama, warum ziehst du nicht zu uns?‘“, erzählt Johannes.
Eine Win-win-Situation
Bisher funktioniert das Zusammenleben in der Mehrgenerationen-WG einwandfrei. Die jungen Eltern arbeiten beide wieder Vollzeit, zahlen die Miete und das Haushaltsgeld. Im Gegenzug bringt Oma Brigitte Lea in den Kindergarten und hält die Wohnung in Schuss. „Es ist eine Win-win-Situation“, sagt Johannes. „Meine Mutter ist nicht mehr allein und hat eine Aufgabe, in der sie aufgeht. Und wir haben im Alltag den Kopf frei.“
Damit lebt Familie Keller ein Modell, das es in Deutschland immer seltener gibt. Denn seit Jahren ist die Zahl der Mehrgenerationenhaushalte rückläufig. Besonders stark betrifft es Haushalte, in denen drei Generationen oder mehr zusammenwohnen. Laut Statistischem Bundesamt hat sich deren Anzahl zwischen 1995 und 2015 fast halbiert: Sie ist von 351.000 auf 209.000 Haushalte und damit von 0,9 auf 0,5 Prozent gesunken. Zum Vergleich: Noch 1961 lebten in fast sieben Prozent aller Häuser und Wohnungen Großeltern, Eltern und Kinder unter einem Dach.
Großfamilie aus Not
Entfremden sich die Generationen also immer mehr? Keineswegs, sagt die Sozialforschung. „Wir haben noch immer dieses romantische ‚Heile-Welt-Bild‘ im Kopf“, erklärt Karsten Hank, Soziologie-Professor an der Universität Köln. „Dass es ganz toll ist, wenn alle zusammenwohnen und sich gegenseitig helfen.“ Doch eigentlich seien Mehrgenerationenhaushalte seit jeher in erster Linie Notlösungen gewesen. Früher teilten sich vom Baby bis zur Oma Bett und Tisch, weil es schlichtweg nicht genug Wohnraum gab.
Auf dem Land galt lange: Der Nachwuchs übernimmt den Hof. Samt Eltern und Großeltern. Und in Ländern wie Spanien oder Griechenland leben heute wieder viele junge Menschen in ihren Kinderzimmern, weil sie die hohe Arbeitslosigkeit dazu zwingt. „Dafür entscheidet man sich jedoch nicht immer freiwillig. In der Regel wünscht man sich – ob Jung oder Alt – seine eigenen vier Wände“, so Hank.
Lebensstile der Generationen nähern sich an
Und die liegen oft gar nicht so weit voneinander entfernt. Laut des Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe, einer Befragung mit mehreren Tausend Teilnehmern, leben in Deutschland knapp 60 Prozent der erwachsenen Kinder nicht mehr als 25 Kilometer von ihren über 50-jährigen Eltern entfernt. Rund acht Prozent bilden sogar eine Hausfamilie: Zwar unter einem Dach, aber in getrennten Wohnungen.
Zuhause wohnen zu bleiben, wäre Mareike und Johannes Keller damals gar nicht in den Sinn gekommen. Wie viele haben auch sie ihre Elternhäuser früh verlassen. Erst fürs Studium, später bestimmte dann der Job den Wohnort. Dass sie heute wieder Lust auf Nähe haben, habe auch viel mit einer neuen Offenheit der älteren Generation zu tun. „Meine Schwiegermutter ist wie eine gute Freundin“, sagt Mareike. Modern sei ihr Lebensstil, manchmal teilten sie sogar Musik- und Modegeschmack. Zudem ist man in Sachen Erziehung auf einer Linie, lässt sich Freiräume, hockt nicht ständig aufeinander.
Über Sportverein und Buchclub hat Brigitte Anschluss in der neuen Stadt gefunden. „Mein eigenes Leben zu führen, ist mir wichtig“, sagt sie. Zwischen ihren Eltern und Großeltern, mit denen Mareike in einem Mehrgenerationenhaushalt aufgewachsen ist, lagen hingegen noch Welten. Fast täglich gab es Streit, erinnert sie sich.
Distanz schafft Harmonie
Dass Familienmitglieder heute oft weit verstreut leben, sieht Bettina Isengard gelassen. Die Sozialwissenschaftlerin erforscht, wie sich räumliche Distanz auf die Beziehung zwischen den Generationen auswirkt. Ihr Fazit: Die Entfernung hat keinerlei negativen Einfluss. „Selbst wenn Großeltern, Eltern und Kinder weit voneinander entfernt wohnen, besteht trotzdem lebenslang Solidarität, emotionale Nähe und regelmäßiger Kontakt“, so Isengard. Das Konzept „Nähe auf Distanz“ trage sogar zu einem harmonischeren Verhältnis zwischen den Generationen bei.
Laut einer Emnid-Umfrage können sich nur knapp 15 Prozent der über 50-Jährigen vorstellen, im Alter wieder bei ihren Kindern zu leben. Auch Brigitte Keller möchte später, wenn es gesundheitlich einmal hapert, nicht von ihrer Schwiegertochter gepflegt werden. Dann in ein betreutes Wohnen zu ziehen, bedeutet für sie Autonomie. Dies bestätigt auch die Statistik: Nur rund neun Prozent der älteren Familienmitglieder in Mehrgenerationenhaushalten beziehen Pflegegeld.
Zu viel Nähe kann Gift sein
„Das heißt aber nicht, dass wir Deutschen besonders hartherzig sind und Kinder sich nicht um ihre älteren Eltern kümmern wollen“, sagt die Soziologin Martina Brandt von der TU Dortmund. „In der Regel ist die Inanspruchnahme von sozialen Dienstleistungen von beiden Seiten gewollt.“
Brandt hat in einer Studie untersucht, was passiert, wenn Unterstützung zwischen Generationen „erzwungen“ wird. In Süd- und Südosteuropa beispielweise, wo rund ein Drittel der Eltern noch mit ihren erwachsenden Kindern zusammenlebt, wird erwartet, dass Ältere innerhalb der Familie gepflegt werden. Vor allem von den Töchtern. „Aber denen geht es damit häufig schlecht“, erklärt Brandt. „Sie können Beruf und Familie nicht vereinbaren und bekommen weniger Kinder. Sie sagen: ‚Ich mache das, weil ich es muss.‘ Für das Verhältnis zwischen den Generationen ist diese erzwungene Nähe Gift.“
Anders in Skandinavien: Hier unterstützt der Staat. Intensive Pflege muss die Familie nicht leisten. Die Rate der Mehrgenerationenhaushalte ist noch geringer als in Deutschland. „Im Gegenzuge gibt es dort viel mehr sporadische Hilfeleistungen, viel häufiger emotionale Unterstützung. Denn man macht es freiwillig, ohne gesellschaftlichen Druck aufgrund fehlender Alternativen“, so Brandt.
Wahlverwandtschaften
Für Familie Keller ist ihr „Experiment“ geglückt. Gerade erwarten Mareike und Johannes ihr zweites Kind. Das Zusammenleben mit Brigitte habe ihnen diese Entscheidung sehr erleichtert, sagen sie. Auch Bettina Isengard vermutet, dass die Zeit des Mehrgenerationenwohnens noch lange nicht vorbei ist. Zukünftig wird es wohl nur andere Formen annehmen, vor allem weil Verwandtschaft dabei nicht immer eine Rolle spielen muss. „Modelle wie Mehrgenerationenhäuser werden im Zuge des demografischen Wandels immer bedeutsamer“, so die Soziologin. Immerhin 30 Prozent der Deutschen können sich schon heute vorstellen, im Alter mit einer „Wahlfamilie“ zusammenzuleben.