Neue Diagnoseverfahren

17.03.2020

Wie For­scher den Todes­zeit­punkt genauer bestim­men wol­len

Mit neuen Diagnoseverfahren wollen Mediziner das Sterbedatum besser berechnen. Die Idee scheint makaber, doch das Ziel ist ein hehres: die Verlängerung des Lebens.

© NatalyaBurova / Getty Images

Mit künstlicher Intelligenz können aus unzähligen Gesundheitsdaten Vorhersagen zur Dauer des Lebens getroffen werden.

Ob der Tag der Heirat, der nächste Urlaub oder ein Konzertbesuch: Viele Ereignisse im Leben sind geplant und haben ein festes Datum. Einzig der Tod bleibt ein kalendarisches Mysterium. Wann uns das Lebensende auf natürliche Weise ereilt – so genau weiß das keiner.

Künstliche Intelligenz analysiert Tausende Röntgenbilder

Thomas Mayrhofer will das ändern. Zusammen mit Forschern der Harvard University hat der Gesundheitsökonom von der Hochschule Stralsund eine künstliche Intelligenz (KI) entwickelt, die die Sterbewahrscheinlichkeit prognostizieren kann. Nicht auf den Tag genau, aber immerhin für die nächsten Jahre. Dafür wurde ein riesiger Computer mit rund 85.000 Röntgenbildern des Brustkorbs „gefüttert“ –  verbunden mit der Information, welcher Patient zwölf Jahre nach der Röntgenaufnahme bereits verstorben oder noch am Leben war.

„Was das menschliche Auge nicht vermag, kann der Algorithmus in unserer Maschine in weniger als einer halben Sekunde: Er liest die Bilder bis ins letzte Pixel aus und findet selbstständig Muster, die mit dem Ergebnis ‚tot‘ oder ‚lebendig‘ in Verbindung stehen“, erklärt Mayrhofer.

Am Ende identifizierte das digitale Orakel fünf Risikogruppen: In der niedrigsten betrug die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten zwölf Jahren zu versterben, vier Prozent; in der höchsten lag sie bei rund 50 Prozent. Was genau für die Eingruppierung ausschlaggebend ist, wisse man noch nicht genau, so Mayrhofer. „Aber der Algorithmus hat vor allem im Bereich der Lunge und im unteren Teil des Brustkorbs – da, wo das Fett sitzt – gesucht. Dies könnte auf Übergewicht oder Erkrankungen wie Lungenkrebs hinweisen.“

Blut-Biomarker prognostizieren Sterberisiko

Auch Forscher des Max-Plack-Instituts für die Biologie des Alterns in Köln verzichten auf klassische Indizien wie Blutdruckwerte, Body Mass Index oder Rauchverhalten, um die verbleibende Lebenserwartung abzuschätzen. Sie entwickelten einen Bluttest, der deutlich präziser vorhersagen soll, wie es um das Sterberisiko von Menschen in den kommenden fünf bis zehn Jahren bestellt ist. 

Im Zentrum des Tests stehen 14 spezielle Biomarker, messbare Werte also, die eine Rolle bei der Restlebensdauer spielen beziehungsweise auf Krankheiten hindeuten. Hat jemand zum Beispiel eine höhere Konzentration an Glukose und Laktat im Blut, steht dies mit einem höheren Sterberisiko in Verbindung. Sind hingegen reichlich Aminosäuren wie Histidin oder Leucin sowie das Bluteiweiß Albumin nachweisbar, macht das einen nahenden Tod unwahrscheinlicher.

Krankheiten frühzeitig erkennen oder gar vermeiden

Die Wissenschaftler versprechen sich von solch neuen diagnostischen Tests vor allem einen Nutzen in der Prävention. „Sagt der Arzt ‚Oh, es raschelt schon ziemlich in der Lunge – hören Sie mal lieber auf zu rauchen‘, wird das oft nicht ernst genommen“, sagt Mayrhofer. Ein von der KI ermitteltes Sterberisiko bei fortgesetztem Qualmen könnte die Patienten eher zur Besinnung bringen und von einem Rauchstopp überzeugen, hofft er. 

So ließen sich womöglich viele Fälle von Lungenkrebs, Diabetes oder Herzproblemen sogar vermeiden. Aktuell arbeitet Mayrhofers Forschungsgruppe an der Weiterentwicklung ihres Algorithmus‘. Das Ziel: In naher Zukunft nicht nur die allgemeine Mortalität, sondern auch die Wahrscheinlichkeit ganz bestimmter Todesursachen vorhersagen zu können.

Mehrheit der Deutschen will Todeszeitpunkt nicht wissen

Allerdings dürften solche medizinischen Glaskugeln nicht missbraucht werden. „Ein großes Problem wäre, diesen zu viel Entscheidungsgewalt zu überlassen. Dann liefe man Gefahr, Patienten bestimmte Therapien zu versagen. Nach dem Motto: Der ist wahrscheinlich eh in fünf Jahren tot – das lohnt sich nicht mehr.“ Zudem dürfe niemand zur Erstellung eines Risikoprofils gezwungen werden. Denn jeder habe auch das Recht auf Nichtwissen.

Davon würden die Deutschen wohl auch überwiegend Gebrauch machen. In einer Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung gaben 87 Prozent der Teilnehmer an, über den Zeitpunkt ihres Ablebens lieber im Unklaren zu bleiben. Vielleicht auch gut so. Denn könnten wir noch gelassen durchs Leben gehen, wenn wir wüssten, wann es endet?