Wie alt die Deutschen wirklich werden
Zur Lebenserwartung in Deutschland gibt es unterschiedliche Werte, berechnet nach der Perioden- oder der Kohortensterbetafel. Doch welche Zahl ist die richtige?
Wie alt die Deutschen werden, lässt sich gar nicht so einfach beantworten. Denn es gibt zwei Möglichkeiten, die Lebenserwartung zu ermitteln: mit der Perioden- oder der Kohortensterbetafel – auch Generationensterbetafel genannt. Nach der Kohortensterbetafel des Statistischen Bundesamtes werden neugeborene Jungen beispielsweise 90,2 Jahre, nach der Periodensterbetafel „nur“ 78,6 Jahre. Bei den Mädchen liegt der Unterschied bei 93 zu 83,4 Jahren.
Rund zehn Jahre Differenz, wie kann das sein? Nun, das Prinzip ist bei beiden Methoden gleich. Sie fußen aber auf unterschiedlichen Annahmen zur künftigen Entwicklung der Lebenserwartung und kommen entsprechend zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dieser Artikel erklärt die Unterschiede und beantwortet die Frage, welcher Wert für die individuelle Lebenserwartung am besten geeignet ist.
Was sind überhaupt Sterbetafeln?
Was für die „Wetterfrösche“ Temperaturkurven und Satellitenbilder sind, sind für Demografen oder Versicherungsmathematiker die sogenannten Sterbetafeln. Dabei handelt es sich um Tabellen, in denen – getrennt nach Geschlecht – für jede Altersstufe, meist von 0 bis 100, die Wahrscheinlichkeit aufgelistet ist, auch noch das nächste Lebensjahr zu erreichen – oder eben nicht. Experten sprechen von der Sterbereihenfolge oder Sterbeabfolge. Das Verhältnis aus der Zahl der Überlebenden und der Gestorbenen jedes Jahrgangs ergibt die Sterberate, die mit dem Alter naturgemäß zunimmt: Bei Kindern ist sie sehr gering, für 80-Jährige beispielsweise weitaus größer.
Mithilfe der Sterbe- beziehungsweise Überlebenswahrscheinlichkeiten können Statistiker die mittlere Lebensdauer berechnen. Wenn von der Lebenserwartung die Rede ist, dann ist meist die bei Geburt gemeint. Sie lässt sich aber auch für jede beliebige Altersstufe ermitteln. Dann spricht man von der sogenannten ferneren Lebenserwartung, also der Zahl an Lebensjahren, die ein Mensch beispielsweise mit 30 oder 60 statistisch noch vor sich hat. Häufig verwendet wird vor allem die fernere Lebenserwartung mit 65, um zu dokumentieren, wie sich die Dauer des Ruhestands entwickelt.
Was ist die Periodensterbetafel?
Die Lebenserwartung nach der Periodensterbetafel taucht in öffentlichen Diskussionen am häufigsten auf. Wie der Name schon verrät, deckt sie eine Periode ab, beispielsweise ein Kalenderjahr. Es handelt sich um eine reine Momentaufnahme. Alle in einem bestimmten Zeitraum Verstorbenen werden gezählt und ins Verhältnis zu den noch Lebenden gesetzt. Daraus ergibt sich für jede Altersstufe eine Sterberate. Diese wird anschließend auf die Neugeborenen übertragen, um die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt zu berechnen.
Ein Beispiel: Nehmen wir an, von den 80-Jährigen starben 2020 fünf Prozent, von den 90-Jährigen zehn Prozent. Für die Berechnung der Periodensterbetafel eines Neugeborenen wird nun unterstellt, dass von ihnen ebenfalls fünf Prozent beziehungsweise zehn Prozent ableben werden, wenn sie dereinst 80 respektive 90 Jahre alt sind. Die aktuellen Sterblichkeitsverhältnisse werden also für die Zukunft „eingefroren“.
In Deutschland wird die Periodensterbetafel des Statistischen Bundesamtes in der Regel für einen gleitenden 3-Jahreszeitraum angegeben, zu erkennen beispielsweise an der Nummerierung 2016/2018 oder 2017/2019. Durch diese Glättung wird verhindert, dass einzelne Ereignisse wie beispielsweise eine schwere Grippe- oder Hitzewelle, die in einem Jahr zu einer hohen Übersterblichkeit führen, in der Statistik durchschlagen. Die geglätteten Werte sind so besser miteinander vergleichbar.
Was ist die Generationensterbetafel?
Anders als bei der Periodensterbetafel wird bei der Generationen- oder Kohortensterbetafel nicht ein Zeitabschnitt betrachtet, sondern ein Jahrgang. Man schaut sich beispielsweise die 1940 Geborenen an und erfasst, in welchem Alter wie viele von ihnen versterben. Daraus berechnet man dann die Lebenserwartung dieses Jahrgangs oder der Kohorte – daher die Bezeichnung.
Das Problem: Anders als bei der Periodensterbetafel, die auf den aktuellen Todesfällen beruht, liegen reale Werte für eine Generationensterbetafel nicht vollständig vor. Komplett wären sie erst, wenn der Letzte eines Jahrgangs verstorben wäre, also nach mehr als 100 Jahren. Ganz exakt ließe sich die Generationensterbetafel somit nur in der Rückschau bestimmen. Um auch für jüngere Generationen die Lebenserwartung auf diese Weise ermitteln zu können, arbeiten die Bevölkerungsforscher daher mit Annahmen zur künftigen Sterblichkeit. Dabei berücksichtigen sie weitere Verbesserungen der Lebensbedingungen oder medizinische Fortschritte durch sogenannte Trends.
Das Statistische Bundesamt veröffentlicht seine Kohortensterbetafel beispielsweise in zwei Trendvarianten: Eine (Variante 2) berücksichtigt den langfristigen, sehr steilen Anstieg der Lebenserwartung seit 1971. Die andere (Variante 1) basiert auf dem kurzfristigen Trend seit 2011, der von einem nicht mehr so starken Anstieg geprägt ist.
Je weiter die Annahmen in die Zukunft reichen, desto unsicherer sind sie, wie die Statistiker offen einräumen. Dazu nehmen wir uns erneut das Beispiel von oben: Um für den Jahrgang 2020 eine vollständige Kohortensterbetafel ermitteln zu können, muss die Sterbewahrscheinlichkeit für das Jahr 2100 beziehungsweise 2110 für die dann 80-beziehungsweise 90-Jährigen geschätzt werden. Bis dahin bleiben viele Variablen unbekannt. Wird es ein Heilmittel gegen Krebs geben? Gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen? Werden wir Alterskrankheiten gar komplett besiegen, wie manche Forscher mutmaßen? Medizinische Fortschritte können die Sterblichkeit in Zukunft noch erheblich beeinflussen. Eines ist jedenfalls sicher: Ein weiterer Anstieg der Lebenserwartung wird nur über Verbesserungen am hinteren Ende der Lebensspanne zu erreichen sein.
Welche hat die bessere Aussagekraft: die Perioden- oder die Kohortensterbetafel?
So unterschiedlich die Werte sind, beide haben ihre Berechtigung. Die Lebenserwartung nach der Periodensterbetafel ist zum Beispiel gut geeignet, um die Sterblichkeitsverhältnisse in einem Land zu messen und sie mit anderen zu vergleichen. Daraus lässt sich beispielsweise auf den Entwicklungsstand schließen. Je höher die Lebenserwartung ist, desto wohlhabender ist in der Regel ein Land, desto besser ist die medizinische Versorgung und desto besser sind auch die Lebensbedingungen für die Menschen. Die Auswirkungen von Sondereffekten, wie etwa der Corona-Pandemie, lassen sich anhand der Periodensterbetafel ebenfalls gut zeigen.
Corona ist gleichzeitig aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Periodensterbetafel keine Rückschlüsse auf die eigene Lebenserwartung zulässt, wie der bekannte Demograf Marc Luy betont. Die Pandemie beeinflusst die Sterblichkeit für vielleicht zwei Jahre, besonders in den höheren Altersstufen, sehr wahrscheinlich aber nicht länger. Nach der Periodensterbetafel für 2020 wären Neugeborene aber ihr ganzes Leben, in jedem einzelnen Altersjahr, der durch Corona beeinflussten Sterblichkeit unterworfen. Das ist unrealistisch. Deswegen ist die Lebenserwartung nach der Periodensterbetafel keine Prognose – weder für die ganz kleinen Kinder noch für 30- oder 40-Jährige.
Dafür ist die Generationensterbetafel besser geeignet. Deshalb basiert auch der Lebenserwartungsrechner von „7 Jahre länger“ auf dieser Sterbetafel – trotz der Unsicherheit über den künftigen Verlauf der Sterblichkeit. Denn die Welt entwickelt sich weiter. So wie die Fortschritte in der Krebsfrüherkennung, effektivere Medikamente oder revolutionäre Operationsmethoden das Leben der Deutschen in der Vergangenheit enorm verlängert haben, so wird es auch in Zukunft weitere Verbesserungen geben, die eine Periodensterbetafel schlichtweg ignoriert. Sie ist jedoch die prominentere Zahl, was vielleicht auch erklärt, warum viele Deutsche ihre Lebenserwartung unterschätzen.
Doch unabhängig von der Berechnungsmethode gilt: Alle Sterbetafeln beschreiben nur ein statistisches Mittel für die gesamte Bevölkerung. Ernährung, Bewegung, Zigaretten- und Alkoholkonsum – am Ende entscheidet nicht die Statistik, sondern zu 60 bis 70 Prozent das Verhalten, ob die eigene Lebenserwartung unter oder über dem Durchschnitt liegt.