Biologisches vs. kalendarisches Alter

19.03.2024

Warum wir uns jün­ger füh­len als je zuvor

Viele Deutsche halten sich für jünger, als sie tatsächlich sind. Das liegt auch an der steigenden Lebenserwartung: Der Tod rückt nach hinten, und mit ihm das Gefühl des Altseins.

© LOGAN WEAVER | @LGNWVR / Unsplash

Das kalendarische Alter entspricht nicht dem eigenen Gefühl. Viele Menschen halten sich für jünger, als sie sind.

Emile Ratelband fühlt sich nicht wie 69. Spürt er in sich hinein oder schaut in den Spiegel, sind da höchstens 49 Jahre auf der Lebensuhr. Noch optimistischer ist sein Hausarzt, der ihm die körperliche Verfassung eines 45-Jährigen bescheinigt. Für den Niederländer Gründe genug, um 2018 einen Antrag bei Gericht  zu stellen: Er möchte auch juristisch um 20 Jahre verjüngt werden und dafür sein Geburtsjahr vordatieren lassen. Statt 1949 soll im Ausweis zukünftig 1969 stehen. 

Das Alter wie den Namen, die Nationalität oder das Geschlecht zu ändern oder anzupassen, mag skurril klingen. Viele werden Ratelbands Ansinnen aber zumindest nachvollziehen können. Rund 80 Prozent der Menschen in westlichen Gesellschaften fühlen sich nämlich jünger als sie tatsächlich sind. Über 40-Jährige Dänen beispielsweise finden, man könne ohne Weiteres jede fünfte Kerze auf ihrer Geburtstagstorte weglassen.  

Je älter die Menschen sind, desto jünger fühlen sie sich 

Auch in Deutschland ist das Alter für viele eine Frage des Gefühls. Hier klaffen zwischen kalendarischem und subjektivem Alter durchschnittlich zwölf Prozent. Erstaunlich ist, dass die Lücke umso größer wird, je älter wir sind. So fühlt sich ein 40-Jähriger im Mittel gut sechs Jahre, ein 50-Jähriger acht Jahre und ein 60-Jähriger fast neun Jahre jünger.

Obendrein verstärkt sich dieser „Verjüngungseffekt“ von Geburtsjahrzehnt zu Geburtsjahrzehnt im Schnitt um zwei Prozent. Menschen des Jahrgangs 1936 hielten sich mit 60 für knapp 53 Jahre. Die 1960 Geborenen fühlten sich mit 60 hingegen schon jünger als 50. 

Die Deutschen leben länger – und sind länger gesund

All das sind Erkenntnisse einer 2023 veröffentlichten Studie, die auf Daten des Deutschen Alterssurveys beruht. In dieser seit 1996 laufenden Langzeitbefragung geben rund 15.000 Teilnehmer – zu Beginn der Untersuchung alle zwischen 40 und 85 Jahre alt – regelmäßig Einblicke in ihre Lebenswelt. Darunter auch in ihr Altersempfinden. „Was uns wirklich überrascht hat, war, dass wir hierbei keine Altersunterschiede finden konnten“, sagt Markus Wettstein, Psychologe von der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitautor der Studie. „Wir hatten erwartet, dass sich sehr alte Menschen heutzutage nicht zwingend jünger fühlen als ihre Altersgenossen vor zehn Jahren. Doch selbst sehr alte Menschen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit von Krankheiten betroffen sind, fühlen sich zunehmend jünger als sie sind.“ 

Ein Grund, warum wir gefühlt immer länger jung bleiben, könnte die stark gestiegene Lebenserwartung sein. Allein zwischen 1950 und 2020 wuchs diese von rund 67 auf 81 Jahre an. „Das könnte erklären, warum man sich vor ein paar Jahrzehnten mit 60 bereits alt gefühlt hat. Inzwischen wissen wir jedoch, dass wir in diesem Alter noch relativ viel Zeit vor uns haben“, sagt Wettstein.

Auch Altersbilder beeinflussen Altersempfinden

Der Tod rückt nach hinten – und mit ihm psychologisch das Gefühl des Altseins. Rein „eingebildet“ ist das Ganze allerdings nicht, denn die Deutschen sind auch de facto heute körperlich und geistig länger fit und können mit so vielen gesunden Lebensjahren rechnen wie nie zuvor. Bei Männern sind es aktuell rund 65, bei Frauen sogar fast 67. „In vielen Bereichen sehen wir, dass Ältere gesünder sind als die Jahrgänge vor ihnen. Das trifft zum Beispiel auf Demenz zu, die heutzutage später auftritt als in der Vergangenheit“, betont Wettstein.

In seinem Antrag auf „Verjüngung“ brachte Emile Ratelband aber nicht nur seine einwandfreie Vitalität als Argument ins Spiel. Ob bei der Jobsuche, bei der Kreditvergabe oder beim Online-Dating: Überall hätte er Nachteile und weniger Erfolg, sobald er sich als 69-Jähriger zu erkennen geben müsse. Tagtäglich erlebe er Altersdiskriminierung, etwas, das laut niederländischer Verfassung eigentlich verboten sei. Sich von seiner Altersgruppe abzugrenzen, ist für Psychologe Wettstein eine logische Konsequenz solcher Erfahrungen. „Es gibt Studien, die zeigen, dass immer dann, wenn das höhere Alter negativ besetzt ist, Personen dazu neigen, sich jünger zu fühlen.“ Man möchte sich von der Gruppe der Älteren fernhalten, wenn diese von anderen als starrsinnig und rückwärtsgewandt, als nicht mehr leistungsfähig und äußerlich weniger attraktiv wahrgenommen wird. 

Wer gefühlt jünger ist, lebt länger

Wo auch immer die Ursachen liegen: Das Sich-jünger-Fühlen hat Folgen. Schädlich kann es werden, wenn man Risiken unterschätzt. Während der COVID-19-Pandemie entdeckten Forscher hier zum Beispiel einen erstaunlichen Zusammenhang: Je jünger sich eine Person im Vergleich zu ihrem kalendarischen Alter einschätzte, desto höher war die Erkrankungs- und Sterbewahrscheinlichkeit. Möglicherweise wurden Abstands- und Quarantäneregeln durch das Gefühl, nicht alt und damit nicht verwundbar zu sein, eher auf die leichte Schulter genommen. 

„Das sind allerdings nur Einzelbefunde“, sagt Wettstein. „In erster Linie hat es Vorteile, sich jünger zu fühlen.“ Mehr Motivation für gesunde Verhaltensweisen wie Sport, größere Stressresilienz und höheres Wohlbefinden – all das sind Effekte. „Im Prinzip liegen Personen, die sich als jünger empfinden, üblicherweise sogar richtig mit ihrem Gefühl.“ Denn sie besitzen, nachweisbar über Organfunktionstests und Blutproben, meist auch ein jüngeres biologisches Alter, sind also körperlich tatsächlich um Jahre jünger. Verglichen mit Menschen, die sich älter fühlen, spiegelt sich das laut einer britischen Studie in einem nur rund halb so hohen Sterberisiko wider. Mit anderen Worten: Wer gefühlt jünger ist, lebt länger. 

Vor Gericht ist Emile Ratelband letztendlich trotzdem gescheitert. Schließlich, so die Richter, gehöre jeder gelebte Tag zur Biografie eines Menschen. Dennoch hat natürlich jeder das Recht, sich jünger zu fühlen – und auch danach zu handeln, sagt Wettstein. „Nur weil man ein bestimmtes Alter erreicht hat, heißt das nicht, dass es für bestimmte Dinge zu spät ist.“ Pläne schmieden, Modetrends folgen, sich verlieben oder für einen Tauchkurs anmelden: Das alles geht mit 29. Genauso gut aber auch mit 49 oder 69.