Warum wir immer schlauer werden – auch im Alter
Seit Generationen steigt der IQ des Menschen über alle Altersgruppen hinweg. Damit das künftig so bleibt, braucht das Gehirn vor allem eines: Herausforderungen.
Das Alter bringt Veränderungen mit sich, sowohl körperliche als auch geistige. Hatte man früher die Einkaufsliste im Kopf, braucht man jetzt ein Zettelchen. War mit 30 auf Anhieb klar, wie das neue Smartphone funktioniert, fehlt nun ein wenig der Durchblick. Keine rosigen Aussichten, könnte man meinen. Zumal wir Deutschen immer länger leben und bis 2060 wohl rund jeder Dritte älter als 65 Jahre sein wird. Ist eine alternde Gesellschaft somit eine, die unweigerlich mehr und mehr geistig schwächelt?
„Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Ursula Staudinger. Der Grund für ihre Entwarnung ist eine Studie, in der die Psychologin und Altersforscherin Intelligenztests – absolviert von über 50-jährigen Briten unterschiedlicher Geburtsjahrgänge – miteinander verglich. Was sich zeigte: Bei nahezu allen Aufgaben schnitten Angehörige später geborener Generationen im Durchschnitt besser ab als ihre Vorgänger. Sei es im Bereich analytisches Schlussfolgern, abstraktes Denken, ja selbst beim Gedächtnis.
70 ist auch geistig das neue 60
Unsere Gesellschaft werde, so Staudinger, in Zukunft zwar kalendarisch älter, aber gleichzeitig kognitiv jünger sein als heute. „Vereinfacht gesagt, ist ein 70-Jähriger im Jahr 2042 geistig genauso fit wie ein 60-Jähriger ein Jahrzehnt zuvor.“
Die Erklärung, warum die Intelligenz offenbar von Generation zu Generation zunimmt, liefert der sogenannte Flynn-Effekt. Sein Namensgeber, der US-amerikanische Politologe James R. Flynn, beobachtete dieses Phänomen erstmals Mitte der 1980er-Jahre. Anders als Staudinger nahm er sich Intelligenztests junger Erwachsener vor und stellte fest, dass der Intelligenzquotient (IQ) in Industrienationen pro Generation um fünf bis 25 Punkte ansteigt und Kinder ihre Vorfahren demnach weit übertrumpfen. Denn während der IQ heute bei durchschnittlich 90 bis 109 liegt, betrug er vor 100 Jahren nur 70 – was nach derzeitigen Maßstäben die Grenze zur geistigen Behinderung markiert.
Von Bauern zu Bildungsbürgern
Waren unsere Vorfahren also allesamt minderbemittelt? Natürlich nicht. Aber die Welt hat sich seitdem grundlegend verändert und stellt vollkommen neue Anforderungen an unser Gehirn. Früher mussten die Menschen vor allem rein praktisch denken. Man arbeitete auf dem Feld, musste die Familie durch Kriegszeiten bringen, erklärte sich vieles im Leben anhand von Religion und Aberglauben.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich das langsam. Aus Bauern wurden Ingenieure und Büroangestellte, Bildungskarrieren gingen vermehrt weit über die Grundschule hinaus, Ernährung und Gesundheitsversorgung verbesserten sich, Wissenschaft, Technik und später das Internet hielten Einzug. Das Leben wurde schneller und komplexer. Um darin zu bestehen, braucht es vor allem logisches, analytisches und abstraktes Denken.
Flynn-Effekt wird schwächer
Zahlenreihen ergänzen oder geometrische Muster erkennen – typische Aufgaben in IQ-Tests –, können Menschen laut Forschern der Universität Wien heute so gut wie nie zuvor. Aber auch die kristalline Intelligenz, also konkretes Wissen wie zum Beispiel die Zuordnung von Land und Hauptstadt, hat enorm zugenommen.
Allerdings sind dem Flynn-Effekt offenbar auch Grenzen gesetzt. So zeigen verschiedene Studien, dass die IQ-Werte in hochentwickelten Ländern seit den 1990er-Jahren stagnieren, zum Teil sogar abnehmen. „Auch wir konnten in unserer Forschung beobachten, dass es immer noch einen Fortschritt gibt, sich dieser jedoch abschwächt“, so Psychologin Staudinger. Über die Gründe können Intelligenzforscher nur mutmaßen. Manche lasten es der Digitalisierung an, die unsere „grauen Zellen“ vermeintlich unterfordert. Denn statt uns selbstständig zu orientieren, nutzen wir Navis; statt Bücher zu lesen, reichen Zusammenfassungen auf Wikipedia. Andere machen hingegen das Fernsehen mit viel seichter Unterhaltung dafür verantwortlich. Und wieder andere meinen, dass biologisch schlicht alles ausgereizt sei.
Später Renteneintritt ist gut fürs Gehirn
Für Staudinger fällt dies jedoch als Argument durch. Sie ist fest von der Plastizität des menschlichen Gehirns überzeugt, also dessen Fähigkeit, sich ähnlich wie ein Muskel durch Training verändern zu können. Was also tun, um den Flynn-Effekt wieder anzukurbeln? „Nervenzellen immer neues ‚Futter‘ geben“, sagt die Forscherin. Vor allem gesellschaftlich sei hier noch viel Luft nach oben. „Ich denke, dass wir auf den Fakt, dass wir immer länger leben, noch nicht optimal eingestellt sind.“ Wichtig sei beispielsweise, mehr Angebote für lebenslanges Lernen zu unterbreiten. Bildung dürfe nicht einfach aufhören, nur weil man über 50 ist.
Zudem legen Studien nahe, dass das Renteneintrittsalter ebenfalls eine gewisse Rolle spielt. So schneiden ältere Schweden oder Schweizer – diese sind oft über das 65. Lebensjahr hinaus beruflich aktiv – in Gedächtnistests besser ab als Spanier und Italiener, die nicht selten schon Anfang 60 in den Ruhestand gehen.
Neue Erfahrungen steigern die geistige Leistung
Besser stehen auch diejenigen da, die auf ihren Körper achten. Denn längst ist erweisen, dass Krankheiten wie Bluthochdruck oder Typ 2-Diabetes, unter anderem hervorgerufen durch ungesunde Ernährung, zu einer vorzeitigen kognitiven Alterung führen können. Demgegenüber trägt Ausdauertraining zu einer Verjüngung des Gehirns bei. Es unterstützt nämlich die Neubildung von Nervenzellen. Eine ähnliche Wirkung hat alles, was uns geistig herausfordert: Schach oder Klavier spielen, Tanzen oder eine Fremdsprache lernen, beharrlich versuchen, sich Einkaufslisten zu merken oder das neue Smartphone zu verstehen. Natürlich könne man mit all dem auch erst im Alter beginnen, es sei nie zu spät, sagt Staudinger. „Ratsam ist jedoch, die ‚Batterien‘ schon vorher aufzuladen – dann halten sie später einfach länger.“