Warum die Zahl der Straftäter über 60 steigt
Ältere tauchen immer häufiger in der Polizeistatistik auf. Und das nicht nur als Opfer, sondern vermehrt auch als Täter. Woran liegt das?
„Drogen-Opi hat Kokain im Gehstock“, „Oma Ingrid (87) muss in den Knast“, „SEK schnappt Rentner-Gang“: Immer wieder tauchen solche Schlagzeilen auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen auf. Auch von einer 90-jährigen Norddeutschen war da zu lesen, die zusammen mit ihrem 67-jährigen Sohn zwei Tage lang Geiseln gefangen hielt, um Lösegeld zu erpressen.
Mit dem wachsenden Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung wächst auch die Zahl der älteren Straftäter. Die weit verbreitete Vorstellung sieht Ältere noch immer fast ausschließlich als die Opfer von Kriminalität: Sie werden in der Straßenbahn bestohlen oder fallen leichtgläubig auf den Enkeltrick herein. „Natürlich sind alte Menschen nach wie vor beliebte Opfer von Trickbetrügern oder Taschendieben“, sagt Christine Lachmund, die sich als Juristin intensiv mit dem Thema Alterskriminalität beschäftigt hat. „Durch den demografischen Wandel ist dieses alleinige Bild jedoch nicht mehr zeitgemäß.“
Laut Polizeilicher Kriminalstatistik gingen 1993 103.010 Straftaten auf das Konto von Delinquenten über 60 Jahre. Bis 2016 stieg deren Zahl auf 157.359 an. Damit wird schon heute jeder 15. aktenkundige Gesetzesbruch von einem Täter jenseits der 60 begannen. 1993 war es noch jeder 19.
Ältere begehen eher leichtere Straftaten
Das bedeutet aber keinesfalls, dass Senioren per se krimineller werden. Der ‚Opa-Bankräuber‘ und die ‚Oma-Dealerin‘ dürften immer noch die medienwirksamen Ausnahmen sein. Schwerbewaffnete „graue Outlaws“ am Rande der Legalität, wie sie in Kinofilmen von Clint Eastwood oder Micheal Caine verkörpert wurden, gibt es in der Realität kaum. „Senioren-Kriminalität ist anders als die der Jungen. Vorwiegend sind es Ersttäter, die Straftaten von geringerer Schwere und Brutalität begehen“, so Juristin Lachmund.
Die Top 6 der Vergehen: Diebstahl, fahrlässige Körperverletzung, Vermögens- und Fälschungsdelikte, Beleidigung, Straftaten gegen die Umwelt sowie Brandstiftung. Vor Gericht verhandelt werden Tatbestände wie Ladendiebstähle, verschuldete Autounfälle und Fahrerflucht, Steuerhinterziehung, eskalierte Streitigkeiten oder das unerlaubte Verbrennen von Laub, wobei das Gartenhäuschen des Nachbarn aus Versehen gleich mit abgefackelt wird.
Gewaltdelikte sind die Ausnahme
Nur in Einzelfällen kommt es zu härteren Delikten, weiß Alexander Gluba vom LKA Niedersachsen: „Durchaus alterstypisch ist Mord am Lebenspartner, wenn dieser zum Beispiel unheilbar erkrankt, oder Tötungsdelikte an Behördenvertretern.“
Dass Ältere jedoch vorwiegend still und heimlich „sündigen“, konnte auch die Soziologin Franziska Kurz mit einer Studie am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg zeigen. Anonym befragte sie 2.000 Frauen und Männer zwischen 49 und 81 Jahren zu ihren Straftaten. Ergebnis: Besonders häufig tricksen Ältere beim Finanzamt und bei Versicherungen, fahren schwarz im öffentlichen Nahverkehr und setzen sich betrunken hinters Steuer. Interessant dabei: Während das Verhältnis von jungen kriminellen Männern und Frauen bei etwa 80:20 liegt, gleicht sich dies im Alter offenbar mehr und mehr an. Laut Kurz sind Seniorenkriminelle zu 60 Prozent männlich und zu 40 Prozent weiblich.
Fehlende Einsicht, bezahlen zu müssen
An wachsender Altersarmut liegt es zumeist nicht, dass Ältere kriminell werden. Lachmund hat für eine Erhebung am Landgericht Darmstadt über 4.200 Ermittlungsakten gegen Menschen über 60 Jahre durchkämmt und dabei ihr Augenmerk auf das Thema Ladendiebstahl und die Motive dahinter gelegt. Frauen stahlen vor allem in großen Supermärkten edle Schokolade und Kosmetik; Männer in Baumärkten zum Beispiel Schrauben für fünf Euro das Stück.
„Es geht vordergründig darum, sich etwas zu gönnen, und nicht einsehen zu wollen, für etwas, das einem vermeintlich zusteht, aber zu teuer erscheint, bezahlen zu müssen“, so Lachmund. Die Täter entstammten dabei allen gesellschaftlichen Schichten – vom ehemaligen Arzt bis zum Handwerker. Natürlich gebe es auch Fälle, wo die Rente für Extras einfach nicht reicht. Dann wandere schon mal Spielzeug für das Enkelkind unbezahlt in den Einkaufsbeutel.
Einsame werden eher kriminell
Viel bedeutsamer als finanzielle Motive scheinen die seelischen Schieflagen zu sein, die mit dem Älterwerden einhergehen können. Einsamkeit, Altersdiskriminierung und das Fehlen einer sinnvollen Aufgabe als Ersatz für den Beruf begünstigen laut Lachmund das Risiko, im Alter kriminell zu werden. Vor allem bei Männern triggere der Eintritt in den Ruhestand nicht selten das Begehen von Straftaten. So konnte die Juristin in ihrer Studie zeigen, dass diese mit Mitte 60 auf dem Höhepunkt ihrer „Langfinger-Karriere“ sind. „Viele kommen mit der Lebensumstellung nicht klar, verlieren ihr Selbstwertgefühl.“ Kriminalitätsforscher Gluba vermutet hinter den Straftaten Älterer mitunter eine Art Kompensation: „Etwas Kriminelles zu tun, ist wie ein ‚Abenteuer‘ im sonst eintönigen Alltag.“
Obwohl noch immer das Motto „Je älter, desto braver“ gilt, prognostizieren Experten, dass sich die Zahl der straffälligen Rentner in den nächsten zwei Jahrzehnten fast verdoppeln und um das Jahr 2030 herum erstmals die Zahl der kriminellen Heranwachsenden übertreffen könnte.
Mit 80 hinter Gittern
Das stellt auch den Justizvollzug vor neue Herausforderungen. Aktuell sitzen 2.029 Häftlinge über 60 ihre Haftstrafe in deutschen Gefängnissen ab, rund ein Fünftel davon ist älter als 70 – mit steigender Tendenz. Auf die „grauen Ganoven“ eingestellt sind die Haftanstalten in der Regel nicht. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren und mangelt an altersgerechten Zellen und Resozialisierungsmaßnahmen.
Doch in den Justizvollzugsanstalten in Detmold und Bielefeld wurden bereits separate „60plus-Abteilungen“ eingerichtet. In Singen am Bodensee gibt es sogar das erste Seniorengefängnis Deutschlands. Der jüngste Insasse ist 62, der älteste 85 Jahre alt. Das Haus ist voll belegt – die Warteliste lang.