Unternehmensberater mit 60
Ruheständler verfügen über viel Wissen und langjährige Praxiserfahrungen – Stärken, die immer mehr Ältere an Jüngere weitergeben: Sie beraten Existenzgründer und Firmen in Not.
Donnerstag, 10 Uhr, in der Zentrale der Deutschen Bank in Hamburg: Kaffee und Tee sind angerichtet, die Unterlagen liegen bereit, die Vorstandssitzung kann beginnen. Es geht um Trends, Strategien und neue Aufträge. Doch um Profite geht es hier nicht. Die vier Herren, die sich um den Konferenztisch versammelt haben, sind der Vorstand eines gemeinnützigen Vereins. Sein Vorsitzender ist Friedrich-Karl Marcus. Und wie seine Vorstandskollegen ist er über 60 Jahre alt und im Ruhestand – zumindest offiziell. Denn aus dem aktiven Berufsleben hat er sich längst noch nicht verabschiedet.
Marcus und seine Mitstreiter nennen sich die „Wirtschaftssenioren“. Der Verein ist der norddeutsche Ableger der bundesweiten Initiative „Alt hilft Jung“. Es ist ein Zusammenschluss von pensionierten Experten und Führungskräften. Ihr Wissen und ihre Erfahrung stellen sie Existenzgründern, krisengeschüttelten Firmen und Freiberuflern zur Verfügung. Sie geben Tipps zu Businessplänen, Unternehmensstrategien, zur Existenzsicherung oder begleiten Firmengründer zu Kreditverhandlungen bei der Bank.
Nachfrage nach Senior-Experten steigt
Und die Nachfrage nach der Expertise der Alten steigt, wie eine Statistik der Stiftung der Deutschen Wirtschaft zeigt. Sie hat mit ihrem „Senior Experten Service“ ebenfalls ein Netzwerk von Rentnern aufgebaut, die ihr Wissen ehrenamtlich an kleine und mittelständische Unternehmen weitergeben – in Deutschland, aber insbesondere im Ausland. Mittlerweile sind auf der Plattform fast 12.000 Experten registriert, vor zehn Jahren waren es knapp halb so viele.
Allein für die Wirtschaftssenioren in und um Hamburg engagieren sich rund 25 Leute. Jeder hat sein Spezialgebiet. Bei Marcus sind es die Nachfolgeprobleme in Familienbetrieben, da kann er aus eigener Erfahrung schöpfen. Er selbst hatte einst den Betrieb seines Vaters, einen Hersteller für Lebensmittelfarbstoffe, übernommen. „Der Übergang war äußerst schwierig“, erzählt Marcus. „Ich habe Einiges verändert und dadurch den Umsatz unserer Firma gesteigert. Mein Vater fühlte sich und sein Lebenswerk herabgewürdigt.“ Was bei der Firmenübergabe schiefgehen kann – wirtschaftlich wie persönlich – und vor allem, wie man da wieder herauskommt, das möchte er anderen weitergeben. „Durch mein Alter und meine Berufserfahrung werde ich von beiden Seiten akzeptiert: vom Sohn und vom Vater“, sagt Marcus.
Existenzgründer nutzen das Wissen der alten Hasen
Im Schnitt nimmt jeder Wirtschaftssenior jährlich zehn unterschiedliche Aufträge an. Manchmal geht die Beratung ganz schnell, andere Projekte dauern teils Wochen oder Monate. „Das ist eine wahnsinnige Horizonterweiterung“, sagt Marcus. „Ich lerne so viele verschiedene Menschen mit den unterschiedlichsten Ideen kennen.“
Wie das Ehepaar Uta und Oliver Hübner aus Marschacht in der Nähe von Hamburg. Vor einem Jahr hatten sie die Idee, Eiern Aroma zu geben, zum Beispiel Rosmarin, Mocca oder Minze. „Die Generation unserer Großeltern wusste noch, dass Eier durch Gerüche einen anderen Geschmack annehmen können“, sagt Oliver Hübner. Dieses Wissen wollten sie zum Geschäft machen – und entwickelten Boxen, in denen das Aroma langsam durch die Schale unter die Haut der rohen Eier dringt. Doch wie teuer sollten die Eier sein? Und wie kommen die Eier an den Kunden?
Ruheständler suchen nach sinnstiftender Aufgabe
Für diese Fragen fanden sie bei einer Informationsveranstaltung der örtlichen Handelskammer den richtigen Ansprechpartner: Friedrich-Karl Marcus. In mehreren Sitzungen trafen sich die drei im Wohnzimmer der Hübners. „Herr Marcus hat den Laptop aufgeklappt, mit Excel-Tabellen hantiert und sorgfältig alles durchgesprochen, was wir bei unseren Berechnungen bedenken müssen“, sagt Oliver Hübner. Etwas klein habe er sich am Anfang gefühlt vor der geballten Kompetenz und Lebenserfahrung von Marcus. „Wir mussten noch so viel lernen. Ohne ihn hätten wir das nie so hinbekommen.“ Jetzt läuft das Geschäft schon seit ein paar Wochen. Gekostet hat die Hübner die Beratung kaum etwas – 20 Euro die Stunde als Aufwandsentschädigung.
Geld verdienen, die Rente aufbessern, das steht bei den Wirtschaftssenioren nicht im Vordergrund. Wie bei vielen Menschen, die sich im Ruhestand noch engagieren, ist die Flucht vor dem schwarzen Loch, die Suche nach einem neuen Lebenskonzept und sozialem Anschluss die zentrale Motivation. Bei den Wirtschaftssenioren kommt ein wichtiger Faktor dazu: Jeder Berater verfügt über großes Spezialwissen, das er anderen zur Verfügung stellen will. Für die Wirtschaft ist das Engagement der Alten ein Segen. Ihre Erfahrung ist ein wertvoller Schatz – gerade in Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels.
Vermittlungsgeschäft hat sich professionalisiert
Inzwischen gibt es diverse Initiativen zur Vermittlung von Senior-Experten – teils auch gegen Honorar. Erfahrung Deutschland (ED) beispielsweise ist ein Pionier auf dem Gebiet. Mit ED ist das Geschäft aus den Vereinen raus und rein in die professionelle Beraterbranche gewandert. 7500 Vorruhe- und Ruheständler haben sich in die Online-Datenbank eingetragen. Wie die Wirtschaftssenioren kommen die Experten aus der Praxis, haben selbst jahrzehntelang in Firmen gearbeitet, ob als Abteilungsleiter, Manager, Ingenieur, Logistiker oder Marketingfachmann. Das Konzept: Die Experten kommen gegen ein Honorar von 500 bis 1100 Euro pro Tag gezielt für ein bestimmtes Projekt in ein Unternehmen, manchmal fünf Tage die Woche, manchmal weniger – teils über viele Monate hinweg.
Für Marcus wären solche bezahlten Beratungsaufträge nichts. Er und die anderen Vereinsmitglieder möchten sich nicht mehr in feste Arbeitsstrukturen pressen lassen. Geregelte Freizeit, die durch ihre Arbeit nicht eingeschränkt wird, das wollen sie schon. Und dazulernen. Regelmäßig bilden sich die Wirtschaftssenioren gegenseitig in eintägigen Workshops fort – ganz so, als steckten sie noch im echten Berufsleben. Und noch etwas ähnelt dem Alltag in den Betrieben: Wenn Mitglieder altersbedingt aufhören, stellt sich auch für die Wirtschaftssenioren die Frage: Wie kann diese Lücke geschlossen werden?