Übergewicht ist das neue Rauchen
Übergewicht und Fettleibigkeit sind nach dem Qualmen das größte Gesundheitsrisiko. Und der Anteil der Dicken steigt drastisch – schon unter den Kindern.
Reiner Calmund war jahrelang ein Schwergewicht. Der gemütliche „Calli“, dessen ausladende Körpermaße auch ein bisschen zu seinem Markenzeichen wurden. Dabei war das tägliche Leben für den Ex-Fußballmanager alles andere als gemütlich: Diabetes, Lungenembolie, Bandscheibenvorfall, Schmerzen in den Gelenken. Mit über 170 Kilogramm aus der Badewanne zu kommen – eine Qual. Anfang 2020 zog der 71-Jährige die Reißleine und ließ sich den Magen verkleinern.
Wie Calmund geht es vielen Menschen in Deutschland. Zwei Drittel der Männer und gut die Hälfte der Frauen sind übergewichtig, haben also einen Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 25. Knapp ein Viertel der Erwachsenen kommt gar auf einen BMI von 30 oder mehr – und gilt damit als adipös, also krankhaft fettleibig. Alarmierend: Seit 1999 hat sich diese Quote mehr als verdoppelt und schlägt damit erstmals den Anteil der Raucher.
Übergewicht verursacht viele Folgeerkrankungen
„Die Entwicklung ist wirklich erschreckend. Wir sehen das hier jeden Tag“, sagt Frank Granderath, Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Krankenhaus Neuwerk in Mönchengladbach und Gründer des dortigen Adipositas-Zentrums. „Vor allem die Begleit- und Folgeerkrankungen bereiten uns große Sorgen.“ So leiden die meisten seiner Patienten an Typ-2-Diabetes. Viele hätten zudem Bluthochdruck und eine beginnende Herzschwäche. Denn das Herz muss viel zu viel Körpermasse mit Blut versorgen und verliert mit der Zeit an Pumpleistung. Was hingegen steigt, ist das Risiko für Arteriosklerose, Herzinfarkt und Schlaganfall.
Zu kämpfen haben viele von Granderaths Patienten auch mit Atemnot und Asthma – Folge des viszeralen Fetts, das die inneren Organe umwuchert und so auch der Lunge im Brustraum wenig Platz lässt. Doch damit noch nicht genug der Diagnosen: Fettleber und Krebserkrankungen, Schlafstörungen und Depressionen, Arthritis, Rückenschmerzen und Gelenke, die irgendwann kapitulieren – Granderath könnte die Liste der Beschwerden endlos verlängern.
Fettleibige leiden länger als Raucher
„Die Leute, die zu uns kommen, sind in der Regel zwischen 30 und 50. Sie stehen also mitten im Leben, können es aber kaum genießen“, so der Mediziner. „Viele können nicht mehr arbeiten, ganz zu schweigen davon, die Freizeit aktiv zu gestalten. Was die Lebensqualität betrifft, hat Übergewicht den Risikofaktor Rauchen schon lange überholt.“
Ohne Frage: Tabakkonsum raubt nach wie vor die meiste Lebenszeit. Rund sechs Jahre verlieren Raucher, Übergewichtige „nur“ vier Jahre. Doch die Zeit des Leidens dauert für sie deutlich länger, wie eine Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung zeigt. Ein 50-jähriger fettleibiger Mann hat gegenüber einem gleichaltrigen Raucher zwar zwei Jahre mehr zu erwarten, er verbringt diese Zeit aber auch bei schlechter Gesundheit: nämlich insgesamt 5,8 Jahre verglichen mit 3,8 Jahren beim Raucher. Salopp formuliert: Raucher sterben schnell, Übergewichtige leiden lange.
Übergewicht verursacht hohe Kosten
„Stark Übergewichtige führen kein normales Leben, bis ein Herzinfarkt sie plötzlich trifft. Die Begleitsymptome quälen sie jeden Tag“, sagt Granderath. Ein Dauerzustand, der nicht nur den Einzelnen, sondern auch das Sozial- und Gesundheitssystem belastet. Denn Übergewichtige sitzen regelmäßig in den Praxen von Diabetologen, Kardiologen, Orthopäden und Psychologen. Berechnungen zufolge kostet allein Adipositas und die damit einhergehenden Reha- und Pflegemaßnahmen, Arbeitsausfälle und Frühverrentungen jährlich fast 26 Milliarden Euro. Bis 2050, so eine Schätzung der OECD, büßt Deutschland wegen der wirtschaftlichen Folgen des Übergewichts rund drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts ein.
Und das Problem könnte sich noch verschärfen. Während nämlich heute „nur“ noch jeder fünfte Deutsche raucht und Zigaretten speziell bei Jugendlichen so out sind wie nie zuvor, tragen 15 Prozent der Minderjährigen schon einige „Schwimmringe“ zu viel mit sich herum. „Niemand muss gertenschlank sein“, stellt Mediziner Granderath klar. „Aber man sollte sich genug bewegen und auf die Ernährung achten. Das ist einfach die Voraussetzung, um lange und vor allem frei von Krankheiten zu leben.“
Weniger Übergewicht, mehr gesunde Lebensjahre
Bei Reiner Calmund sind seit der OP schon 50 Kilogramm gepurzelt. Aus der Badewanne zu kommen – kein Problem mehr. Ein neues Lebensgefühl ist jedoch nicht alles, womit Gewichtsverlust belohnt wird. Bei übergewichtigen Diabetikern beispielsweise, die im Rahmen einer Studie mehr als 15 Kilogramm abnahmen, schwächten sich die Symptome der Zuckerkrankheit danach ab – oder waren sogar ganz verschwunden. Jedes Kilo weniger bringt also gesunde Lebensjahre zurück.