Telemedizin

26.02.2017

Stand­lei­tung zum Arzt

Die Digitalisierung ermöglicht die medizinische Versorgung von Patienten aus der Ferne. Es ist auch eine Chance für ein längeres eigenständiges Leben.

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In der Zukunft kontrolliert der Arzt die Gesundheitsdaten seiner Patienten mithilfe eines Tablets oder Computers.

In der Arztpraxis der Zukunft gibt es nur noch ein kleines Wartezimmer. Denn zur Behandlung kommen nur Patienten mit schweren Leiden. Menschen mit Husten oder Schnupfen bleiben hingegen zu Hause. Um sie kümmert sich der Arzt nur noch am Computer – per Videokonferenz, Messprogrammen und elektronischem Rezept.

Die Gesundheitsversorgung steht in den kommenden Jahren vor einem gewaltigen Umbruch: Schnelles Internet, neue Messgeräte und Videotechnik erlauben es, immer mehr medizinische Dienste anzubieten, ohne dass sich Arzt und Patient noch treffen müssen. Nicht nur die Behandlung erfolgt künftig aus der Ferne. Auch in der Beratung, Rehabilitation oder Kontrolle der Patienten kommt vermehrt die Telemedizin zum Einsatz. Und sie verändert zugleich die Art, wie Ärzte, Kliniken und Apotheken zusammenarbeiten.

Kürzere Wartezeiten, bessere Datenqualität

Die Technik verspricht viele Vorteile: „Ärzten bleibt künftig mehr Zeit für die Behandlung schwerer Fälle“, sagt Jörg Caumanns vom Forschungsinstitut Fraunhofer Fokus. Durchschnittlich sieben Minuten habe ein Arzt heute für einen Patienten Zeit, 15 Minuten könnten es werden – wenn nicht mehr all die Routinefälle die Praxen verstopfen. Und wenn auch viele Kontrolltermine wegfallen, etwa zur Messung der Herzfrequenz. Denn die Daten erfasst der Arzt in Zukunft kontinuierlich per Fern-EKG. Für Caumanns ist das ein weiterer Vorteil im Vergleich zu heute, wo Herzpatienten alle paar Wochen zum Arzt müssen: „In der Praxis kann ein EKG normale Werte anzeigen, die im Alltag des Patienten ganz anders aussehen.“

Fällt die Präsenzplicht weg, entlastet dies natürlich auch die Patienten. Sie brauchen keine langen Wartezeiten und Anfahrtswege mehr auf sich nehmen – ein Vorteil insbesondere für Ältere. Die Menschen können somit künftig länger in den eigenen vier Wänden leben und müssen für die medizinische Betreuung nicht frühzeitig ins Krankenhaus oder in ein Pflegeheim. „Die Älteren können trotz notwendiger Behandlung länger in ihrer häuslicher Umgebung bleiben“, sagt Franz Joseph Bartmann, Vorsitzender des Telematikausschusses der Bundesärztekammer (BÄK).

Medizinische Fachangestellte übernimmt Hausbesuch

Ins Haus kommt dann in der Regel aber nicht mehr der Arzt, sondern die medizinische Fachangestellte, die die Untersuchungen selbst durchführt. Sie kann aber jederzeit in Kontakt zum Arzt treten, der seine Praxistätigkeit für Hausbesuche nicht mehr unterbrechen muss. Damit hat die Telemedizin auch das Potenzial, den Fachärztemangel auf dem Land abzufedern. BÄK-Vertreter Bartmann erwartet, dass sich in Zukunft telemedizinische Zentren herausbilden werden, von denen aus Fachärzte die Krankenversorgung in der Fläche sicherstellen. „Die medizinische Versorgung wird nicht mehr so aussehen wie heute“, so der Mediziner.

Wie, das lässt sich anhand vieler Projekte bereits erahnen: In Bayern unterstützen Schlaganfallspezialisten aus München und Regensburg in Notfällen 19 regionale Kliniken und werten die Computertomographie-Bilder (CT) aus. Die Universitätsklinik Dresden erprobt EKG-Chips, die – einmal unter der Haut verpflanzt – permanent die Herzaktivität des Trägers messen und die Daten an die Klinik übertragen. Bei auffälligen Werten bestellen die Kardiologen den Patienten kurzerhand ein. Beim Telemedizin-Projekt „Mein Herz“ in Schleswig-Holstein erhalten Patienten Messgeräte, mit denen sie rund um die Uhr überwacht werden. Die Daten gelangen über den Telefonanschluss direkt zu den angeschlossenen Krankenhäusern.

Vergütungssystem erschwert Telemedizin

Von solchen Projekten verspricht sich auch die Bundesregierung eine bessere Patientenbetreuung und fördert den Ausbau der Telemedizin. Unter anderem dafür wurde 2015 der Innovationsfonds aufgelegt, der von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert wird. Von 2016 bis 2019 stehen jährlich 300 Millionen Euro bereit, um neue Versorgungsformen zu unterstützen. Ende 2016 standen 91 Projekte auf die Förderliste, weitere sollen folgen.

Dem Durchbruch der Telemedizin – vor allem im ambulanten Bereich –  steht aber noch das Vergütungssystem im Weg. „Wenn es darum geht, einen Patienten mit einem Langzeit-EKG auszustatten, stellt sich die Frage, wie das finanziert werden soll“, sagt Caumanns vom Fraunhofer Fokus. Ähnlich sieht es BÄK-Vertreter Bartmann: „Die Behandlung am Monitor setzt erhebliche Investitionen voraus. Mit den Regelleistungen der Kassen sind die Kosten nicht abgedeckt.“ Die bestehende Vergütung sei zudem auf das duale Arzt-Patienten-Verhältnis ausgerichtet, nicht auf netzwerkbasierte Behandlungsformen, so Bartmann.

Berufsordnung untersagt Erstdiagnose aus der Ferne

Ein weiteres Hindernis für telemedizinische Anwendungen ist die Berufsordnung der Ärzte: Sie untersagt es ihnen bislang, Patienten ausschließlich aus der Ferne zu behandeln. Ärzte müssen den Patienten wenigstens zu Beginn einmal persönlich getroffen haben. Eine Videosprechstunde, um eine Erstdiagnose zu stellen, ist heute noch ausgeschlossen, nur Kontroll- und Nachsorgeuntersuchungen sind möglich.

Doch es bewegt sich was. Die Landesärztekammer Baden-Württemberg hat im Herbst 2016 als bundesweit erste grünes Licht gegeben für ein Modellprojekt, das eine Behandlung auch ohne Kontakt des Arztes mit dem Patienten erlaubt. Vorbild ist der Telemedizin-Anbieter Medgate in der Schweiz: 100 Ärzte kümmern sich dort rund um die Uhr um die Anliegen der Patienten: Sie beraten, diagnostizieren, stellen Rezepte aus und überweisen sie – falls nötig – an andere Ärzte. Täglich rund 4.900 Beratungen führt das Unternehmen durch. Die Kassen freut es: Sie müssen weniger bezahlen, weil Patienten besser durchs System geführt werden und es weniger Arztkontakte gibt.

Patienten werden Lieferanten von Gesundheitsdaten

In der Ärzteschaft ist das Modell Medgate umstritten. Kritiker sehen die Gefahr, dass bei der Ferndiagnose Dinge übersehen werden und der Mediziner sich kein objektives Bild machen kann. Doch BÄK-Vertreter Bartmann lässt dieses Argument nur bedingt gelten: „Ein vorgegebener Abfrage-Algorithmus lässt bei Medgate gar nicht zu, dass notwendige Fragen nicht gestellt werden.“

Er rät seinen Kollegen, die digitale Entwicklung mitzugestalten statt sie zu blockieren. Aufhalten könnten sie den Trend ohnehin nicht: „Ob Telemedizin erfolgreich eingesetzt wird, entscheiden am Ende nicht die Ärzte, sondern die Patienten“, ist sich Bartmann sicher. Je mehr sich die Menschen an Gesundheits-Apps gewöhnen würden, desto stärker werde die Nachfrage nach telemedizinischen Angeboten. Für Bartmann mündet die Entwicklung in einer Abkehr vom tradierten Arzt-Patienten-Verhältnis: Der Patient ist nicht mehr reiner Konsument, sondern mehr und mehr Lieferant von Gesundheitsdaten.