So meistert Norwegen den demografischen Wandel
Kaum ein Land bietet Älteren so gute Lebensbedingungen wie Norwegen. Integration und Fürsorge sind vorbildlich – auch dank üppiger Öleinnahmen.
Die Norweger sind das glücklichste Volk der Welt. Zumindest laut World Happiness Report der Vereinten Nationen. Dafür haben die Forscher jedoch nicht die Lachfalten vermessen, sondern schlicht die Dinge bewertet, die ein gutes Leben ausmachen: Wohlstand, Lebenserwartung, Gesundheit der Bevölkerung sowie die Stärke des sozialen Umfelds.
In all diesen Kriterien ist Norwegen Spitze, und so ist das Land wenig überraschend auch ein passabler Wohnort für Ältere. Laut Global AgeWatch Index 2015 sind die Lebensbedingungen von Senioren – abgesehen von der Schweiz – nirgends besser als im Norden. Die Rente ist sicher, das Altersarmutsrisiko gering, die Gesundheitsversorgung vorbildlich, die soziale Einbindung ein gesellschaftlicher Wert. Und wer sich fit genug fühlt und vor allem Lust hat, noch ein paar Jährchen länger zu arbeiten, wird vom Arbeitgeber eher ein „Gerne doch!“ als eine Abschiedsrede hören.
Üppiger Sozialstaat dank Ölreichtum
Doch was ist das Erfolgsrezept der Norweger? „Die Integration der gesamten Bevölkerung ist oberstes Ziel der Regierung und der Sozialpartner“, sagt Sven Jochem, Skandinavien-Experte und Professor für Politik an der Universität Konstanz. „Bereits seit den 1980er-Jahren wird intensiv diskutiert, wie man mit den Folgen des demografischen Wandels umgehen soll, wie man die sozialen Sicherungssysteme demografiefest macht, ohne dabei auf das Kernprinzip ‚soziale Sicherheit für alle‘ zu verzichten.“
Die Grundlage dafür liefert das Öl, das vor Stavanger und Bergen in der Nordsee gefördert wird und dem Staat satte Einnahmen verschafft. Ein Teil wird für den Ausgleich des geschätzten Staatsdefizits genutzt, ein weiterer Teil wandert in den sogenannten „Government Pension Fund – Global“, den norwegischen Pensionsfonds. Aktuell ist dieser rund 790 Milliarden Euro schwer und damit der größte Pensionsfonds der Welt. Pro Einwohner hat der Staat so gut 150.000 Euro auf der hohen Kante.
Norweger können Renteneintritt frei wählen
Um die Grundsicherung zu gewähren, hat jeder Norweger Anspruch auf eine Mindestrente von circa 20.000 Euro im Jahr – auch wenn er nie gearbeitet hat. Hausfrauen und -männer, die zum Beispiel Kinder oder pflegebedürftige Familienmitglieder betreuen, erhalten drei Rentenpunkte pro Jahr, um diese Grundrente aufzustocken. Unter erwerbstätigen Norwegern ist der Abschluss einer zusätzlichen Betriebsrente Usus, die einheitlich bis zum 77. Lebensjahr gezahlt wird. Die Versorgungslücke schließen viele mit einer privaten Rentenversicherung.
Flexibilität ist das zentrale Schlagwort, wenn es um Norwegens Rentensystem geht. Vor allem seit der Rentenreform von 2011, die die steigende Lebenserwartung als Parameter ins Spiel brachte. „Wie Schweden hat sich auch Norwegen von der Idee eines festen Renteneintrittsalters verabschiedet“, sagt Politikwissenschaftler Jochem. Wer länger lebt, sollte auch länger arbeiten, um ein bestimmtes Rentenniveau zu erreichen. Ein Rentenkorridor macht das Ganze flexibel: Wer mag oder wie Bauarbeiter, Polizisten oder Balletttänzer konditionsbedingt nicht mehr kann, darf ohne große Abschläge mit 62 Jahren in den Ruhestand gehen. Wer sich hingegen noch nicht aufs Altenteil zurückziehen möchte, kann bis 75 weiter berufstätig sein und so zusätzliche Rentenpunkte sammeln.
Hohe Erwerbsbeteiligung unter Älteren
Und dafür entscheiden sich nicht wenige: Während in Deutschland 2015 rund 14 Prozent der 65- bis 74-Jährigen noch in Lohn und Brot standen, waren es in Norwegen fast 20 Prozent und damit so viele wie in keinem anderen europäischen Land. Rund 65 Prozent der Älteren setzen dabei auf eine Kombination aus Rente und Arbeit. „Die ‚jungen‘ Alten werden in Norwegen als Potenzial angesehen“, so Skandinavien-Kenner Jochem, „als ein Teil der Gesellschaft, der zur Wertschöpfung beitragen kann.“ So verwundert es auch nicht, dass in Norwegen, einem Land, in dem Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel herrscht, Arbeitslosigkeit auch unter älteren Erwerbsfähigen so gut wie nicht vorhanden ist. Gerade einmal 1,3 Prozent der 55- bis 64-Jährigen sind ohne Job.
Einen großen Anteil daran dürfte die norwegische Arbeits- und Wohlfahrtsbehörde haben, die versucht, eng mit Unternehmen zu kooperieren. Unter anderem über das sogenannte Inclusive Workplace Agreement, eine Vereinbarung, mit der sich Arbeitgeber verpflichten, Voraussetzungen und Anreize für eine lange Berufstätigkeit ihrer Mitarbeiter zu schaffen. Der Ansatz lautet: Prävention statt Behandlung, Frührente als letzte Option. Ziel ist ein Arbeitsumfeld, in dem der Mensch über seine gesamte Lebensarbeitszeit hinweg zwar gefordert, aber möglichst nie körperlich und seelisch überfordert wird. Ehe jemand „Rücken“ oder ein Burnout bekommt, sollten ihm Alternativen wie ein Abteilungswechsel oder eine Reduzierung der Arbeitszeit angeboten werden.
Staat fördert lebenslanges Lernen
Damit Mitarbeiter auch im Alter nicht den Anschluss verlieren, investiert Norwegen zudem in sein umfangreiches System für lebenslanges Lernen. Es gibt Bildungsprogramme, in denen sich Firmen der gleichen Region oder Branche zusammenschließen, um ihre älteren Mitarbeiter weiterzubilden. Gemeinden bekommen staatliche Zuschüsse, wenn sie die Qualifizierung ihrer Bewohner fördern. In vielen Betrieben sind Mentoring-Programme implementiert, durch die Alt und Jung voneinander lernen. So liegt das Land in Sachen Bildungsbeteiligung Älterer weit über dem OECD-Durchschnitt.
„Die Politik basiert auf einem großen gesellschaftlichen Konsens, auch wenn diese nicht gerade geringe öffentliche Summen in Anspruch nimmt, zum Beispiel für die Gesundheitsversorgung und Pflege“, erklärt Jochem. So hat der Staat auch die „alten“ Alten im Blick, investiert in den Ausbau von Seniorenheimen, Tagesstätten und mobilen Pflegediensten, in Einrichtungen mit 1:1-Betreuung für Demenzkranke oder sorgt für eine altersgerechte Gestaltung des öffentlichen Raums. Dieses Engagement und die Wertschätzung gegenüber Hochbetagten strahlen bis in die Bevölkerung und ermöglichen einen weitgehend positiven Blick auf das Alter. „Die Norweger sind mit ihrem System offensichtlich sehr zufrieden und glücklich“, sagt Jochem. Sogar so glücklich wie kein anderes Volk.