So bin ich eben - nicht!
Der Mensch ändert sich nicht, war lange die landläufige Meinung. Heute weiß die Forschung allerdings: Unsere Persönlichkeit ist eine Dauerbaustelle.
„So bin ich eben!“ gehört wohl zu den beliebtesten Sätzen, wenn es um verbale Selbstverteidigung geht. Er würgt in letzter Instanz jede Diskussion ab, wenn andere unser Verhalten kritisieren. Denn ob Einzelgänger oder Hansdampf in allen Gassen, Zuspätkommer oder Pünktlichkeitsfanatiker, Sensibelchen oder harter Hund – unser Charakter definiert, wie und wer wir sind Und der ist nun mal im Laufe des Lebens irgendwann „fertig“. Nicht mehr veränderbar. Basta.
Bis 30 und nicht weiter
Bis vor einigen Jahren hätte das auch die Wissenschaft unterschrieben. Vor allem die Lehrmeinung von Paul Costa und Robert McCrae galt lange als gesetzt. Die Annahme der amerikanischen Psychologen: Der Charakter entwickelt sich – höchstens jedoch bis zum 30. Lebensjahr. Dann ist er und seine rund 4500 Eigenschaften von A wie „abenteuerlustig“ bis Z wie „zurückhaltend“ ausgewachsen. Schon 1890 verglich William James, einer der Urväter der Entwicklungspsychologie, die Persönlichkeit mit Gips. Ähnlich wie mit dem Mineral, das sich unter Zugabe von Wasser verfestigt, verhalte es sich auch mit dem Charakter: Die Phase zwischen Kindheit und jungem Erwachsenenalter sei entscheidend, welcher Typ Mensch wir werden. Danach sei unser Wesen nie wieder formbar.
Jeder fünfte Ältere verändert sein Ich
Jule Specht ist da ganz anderer Ansicht. Für ihre Doktorarbeit hat sich die Berliner Professorin für Persönlichkeitspsychologie eine Lebensphase genauer angeschaut, die von der Forschung bisher weitgehend linksliegen gelassen wurde: das Alter, die Zeit nach dem Renteneintritt. Dafür wertete sie Daten des Sozio-oekonomischen Panels aus, einer Langzeitstudie, deren Teilnehmer auch nach ihren Charaktereigenschaften befragt werden. Das erstaunliche Ergebnis: Während die Persönlichkeit zwischen 30 und 60 weitgehend stabil bleibt, kommt danach noch einmal richtig Bewegung in die Sache. So veränderte sich jeder Fünfte nach seinem 60. Geburtstag noch einmal stark, deutlich mehr Probanden berichteten immerhin von einem Wandel im Kleinen. Kein Gips also, sondern eher Knetmasse.
Dass Alter nicht Stillstand bedeutet, davon ist auch Mathias Allemand überzeugt. „Unsere Persönlichkeit ist je zur Hälfte das Produkt von Genen und Erfahrungen“, so der Psychologie-Professor von der Universität Zürich. „Und Studien haben gezeigt: Die genetischen Einflüsse nehmen im Laufe des Lebens ab, während die Umwelteinflüsse zunehmen.“ Renteneintritt, Vollzeitfreizeit, Großelternschaft, gesundheitliche Probleme, Tod des Partners, Erkennen der eigenen Endlichkeit – das Alter stellt uns vor vollkommen neue Aufgaben. Mal schöne, mal schwierige. Im Streben nach Zufriedenheit passt der Mensch sein Wesen individuell daran an, verliert mitunter Eigenschaften, gewinnt aber auch neue hinzu.
Vom Stubenhocker zum Weltreisenden
Generell, so die Forschung, werden wir durch unseren Erfahrungsschatz mit zunehmendem Alter verträglicher, streiten uns weniger, sind nachsichtiger und hilfsbereiter. Ein grantiger Zeitgenosse ist zumindest der ältere Durchschnittsdeutsche nicht. Herbert Marsh, Professor an der University of Oxford, hat in einer großangelegten Studie zudem etwas gefunden, das er den „La dolce vita-Effekt“ nennt: Je älter wir werden, desto mehr pfeifen wir darauf, gewissenhaft zu sein. Gibt es im Job und Zusammenleben mit Kindern noch feste Regeln, befreit der Ruhestand von den Pflichten des Alltags. Genuss und Entspannung statt To-do-Listen und Wecker.
„Es ist sogar möglich, dass sich jemand im Alter vom Stubenhocker zum Weltreisenden wandelt“, sagt Psychologe Allemand. „Solche Veränderungen brauchen aber sehr viel Mut und Wille.“ Denn gerade mit der Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen tun wir uns im Alter schwer. Die Risikobereitschaft sinkt tendenziell mit jeder Kerze auf der Geburtstagstorte. Was nicht unbedingt schlecht sein muss, findet Allemand. Nichts spreche gegen das Bewährte, die gemütliche Routine. Problematisch werde es erst, wenn sich der Lebenssinn verflüchtigt. So hat eine kürzlich erschienene Studie aus den Niederlanden gezeigt, dass das Selbstwertgefühl und damit Eigenschaften wie Optimismus und Lebensfreude fünf Jahre vor und nach dem Renteneintritt im Durchschnitt deutlich schwinden.
Raus aus der Komfortzone!
Um das zu vermeiden und glücklich alt zu werden, kann es sich also lohnen, seine Persönlichkeit ab und an bewusst zu hinterfragen. Geselligkeit, Offenheit und ein gewissenhafter Umgang mit dem eigenen Körper stehen eng im Zusammenhang mit Langlebigkeit. Sie fördern das subjektive Wohlbefinden – selbst dann, wenn jemand krank ist. „Die gute Nachricht ist, dass selbst im Alter Charakterveränderungen in gewissem Maße trainierbar sind“, sagt Psychologe Allemand. Der Schlüssel: Mit Gewohnheiten brechen. Warum sich als Introvertierter nicht einem Chor anschließen? Oder die Lust auf neue Erfahrungen durch das Lernen einer Sprache wieder ankurbeln? Der amerikanische Persönlichkeitsforscher Joshua Jackson zum Beispiel ließ Senioren Knobelaufgaben lösen. Nach 16 Wochen war nicht nur ihr Geist wacher, sondern auch ihr „Hunger“ auf immer neuen Input geweckt.
Die Charaktereigenschaft, die wir im Alter wohl alle gerne hätten, ist allerdings ein eher seltenes Phänomen: Weisheit. Neben einem großen Erfahrungsschatz braucht es dafür nämlich die lebenslang hohe Offenheit für neue Situationen, Menschen, Denkweisen – und die eigene Veränderlichkeit. „So bin ich eben!“ aus seinem Wortschatz zu streichen wäre da kein schlechter Anfang.