Russland: Länger leben per Dekret
Die Russen sollen länger leben, fordert Wladimir Putin in einem Erlass. Sechs Jahre mehr erhebt er zum Ziel. Experten bezweifeln, dass dieser Anstieg erreichbar ist.
Wladimir Putin ist der starke Mann in Russland. Was er sich wünscht, wird für gewöhnlich auch umgesetzt. Mit seinen Mai-Dekreten hat der Präsident seiner Regierung recht ambitionierte Vorgaben gemacht. Demnach soll das Riesenreich bis 2024 unter anderem zu den fünf größten Volkswirtschaften gehören. Gleichzeitig soll die mittlere Lebenserwartung bis dahin auf 78 Jahre steigen.
Aktuell liegt sie laut staatlichem Statistikdienst Rosstat bei rund 72 Jahren. Sie ist damit zwar so hoch wie noch nie in der Geschichte des Landes, gegenüber dem Westen hinkt Russland aber deutlich hinterher. Zum Vergleich: In Deutschland werden die Menschen im Durchschnitt gut 81 Jahre alt. Russland hat also einiges aufzuholen. Aber sechs Jahre in so kurzer Zeit, ist das überhaupt realistisch?
Gute medizinische Versorgung – aber nur im privaten Sektor
Jörg Stadelbauer ist da skeptisch: „Die durchschnittliche Lebenserwartung binnen sechs Jahren um sechs Jahre zu erhöhen, halte ich für schwierig“, sagt der emeritierte Professor für Geographie und Russland-Experte. Dafür müssten eine Reihe von Rahmenbedingungen grundlegend verändert werden, angefangen bei der medizinischen Versorgung. „Es bräuchte landesweit ein gut ausgestattetes und funktionierendes Gesundheitswesen. Das ist meines Wissens bisher nicht der Fall.“ Zwar gebe es sehr gute Versorgungsmöglichkeiten im privaten medizinischen Sektor, insbesondere in größeren Städten. „Für die meisten Menschen sind sie aber nicht zu bezahlen“, so Stadelbauer.
Die Defizite in der staatlichen Gesundheitsversorgung sind ein Erbe der Sowjetzeit. Schon damals sei das System unterfinanziert und rückständig gewesen, erklärt Sabine Sütterlin vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Trotz der Reformen seit dem gesellschaftlichen Umbruch funktioniert es immer noch schlecht: „Vielerorts fehlt es an Medikamenten und moderner Technik. Selbst für Prävention und Aufklärung ist nicht genug Geld da“, beschreibt Sütterlin.
Antiretrovirale Medikamente erhalten nur ein Viertel der HIV-Infizierten
Eine Folge der Gesundheitskrise ist die wachsende Zahl von Menschen mit HIV. Während die Zahl der Neuinfektionen in Westeuropa auf niedrigem Niveau verharrt, steigt sie in Russland seit Jahren stark an. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO waren es allein 2015 rund 98.000 Fälle. Die Zahl der offiziell registrierten HIV-Positiven erreichte 2016 die Millionengrenze. Nur etwa ein Viertel der Erkrankten, darunter viele Drogensüchtige, erhalten laut Sütterlin antiretrovirale Medikamente. Diese ermöglichen ein Überleben mit dem Virus und senken die Gefahr, andere anzustecken. Immerhin: 2017 hat die Regierung eine offizielle HIV-Strategie aufgesetzt und zusätzliche Mittel versprochen. „Ob diese fließen werden, ist angesichts der wirtschaftlichen Krise Russlands jedoch fraglich“, sagt Sütterlin.
Anti-Alkoholkampagne der 1980er Jahre hat nicht nachhaltig gewirkt
Mit Geld allein lässt sich die Lebenserwartung in Russland ohnehin nicht verbessern. Die Menschen müssten auch ihr Ernährungs- und Trinkverhalten ändern – was sich allerdings schwer verordnen lässt. Denn ein wesentlicher Faktor für die hohe Sterblichkeit – insbesondere bei Männern – ist der übermäßige Alkoholkonsum. Der wiederum führt zu vielen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Seit Jahrzehnten schon kämpft das Land gegen die verbreitete Trunksucht – mit mäßigem Erfolg. „Gorbatschow hatte es mit seiner Anti-Alkoholkampagne Mitte der 1980er-Jahre nicht geschafft, viel zu verändern. Bei Teilen der Bevölkerung gibt es zwar ein gewisses Umdenken, aber das reicht noch nicht“, analysiert Russland-Experte Stadelbauer.
Ähnlich verhält es sich mit dem Tabakkonsum: Russland hat eine der höchsten Raucherquoten weltweit. Laut OECD greifen rund 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung täglich zur Zigarette, in Deutschland ist es „nur“ jeder Fünfte. Stadelbauer hält immerhin auf dem Gebiet in relativ wenigen Jahren Erfolge für möglich. Durch eine Kombination von Aufklärung, Verboten und Besteuerung könne das gelingen. Deutschland hat das gezeigt.
Alte Industrieanlagen erzeugen hohe Schadstoffbelastung
Wesentlich länger würde es hingegen dauern, die in vielen Regionen hohe Schadstoffbelastung zu senken. Sie resultiert aus der Vielzahl älterer Autos und den überalterten Bergwerks- und Industrieanlagen. Dafür müsste laut Stadelbauer das gesamte sozioökonomische System verändert werden. „Die Voraussetzungen dafür sind meines Erachtens in Russland nur bedingt gegeben“, urteilt der Kulturgeograph.
Solche gravierende Veränderungen hatte Putin wohl auch nicht im Kopf, als er seine Ziele formulierte. Wie sie zu erreichen sind, darüber muss sich die russische Regierung den Kopf zerbrechen. Bis Oktober will sie ihr Maßnahmenpaket vorlegen. Vielleicht unternimmt sie ja einen neuen Versuch, das Volk trocken zu legen.