Pflegeroboter gegen Japans Demografie-Problem?
Japan ist eine Art Pionier des demografischen Wandels. Nirgendwo ist die Bevölkerung so alt wie dort. Was kann Deutschland vom Land im fernen Osten lernen?
Auf den ersten Blick wirkt die Webseite unscheinbar. Weißer Hintergrund, darauf ein paar wenige Zahlen. Doch die haben es gewaltig in sich. Vor allem jene, die im Sekundentakt kleiner und immer kleiner werden. Es ist die Anzahl der Kinder, die heute in Japan lebt. Sie schwindet unaufhaltsam gen Null – fast wie eine digitale Zeitbombe, die schließlich im Jahr 3776 explodiert: Dann wird es im Inselstaat nur noch einen einzigen einsamen Bewohner unter 15 Jahren geben.
Forscher der Universität Tokio haben diesen Countdown eingerichtet. Er visualisiert ganz nüchtern ein Endzeitszenario: Noch rund 642.000 Tage – dann ist die japanische Gesellschaft am Ende.
Land der 100-Jährigen
Kein anderes Land auf der Welt hat so stark mit Überalterung und Geburtenschwund zu kämpfen wie Japan. Und kein anderes Land trifft die Wucht einer aus den Fugen geratenen Bevölkerungspyramide so früh. Denn während die Babyboomer in Deutschland, also die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre, erst noch in Rente gehen, hatte die Mehrheit der Babyboomer Japans schon längst ihren letzten regulären Arbeitstag. Der Kindersegen setzte hier nämlich bereits zwischen 1947 und 1949 ein, bis in die 1970er-Jahre hinein besaß das Land die jüngste Bevölkerung aller Industrienationen.
Das ist lange vorbei. Bis 2020, so schätzt man, wird der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen bei 28 Prozent liegen. 1970 waren es noch etwa 7 Prozent, 2007 bereits rund 19 Prozent. Dem gegenüber steht eine Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau – eine der niedrigsten Quoten weltweit. 2,1 wären nötig, um die Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Ändert sich nichts, werden von den heute 127 Millionen Einwohnern im Jahr 2110 nur noch magere 43 Millionen übrig sein.
Japan hat die höchste Lebenserwartung der Welt
Der Großteil von ihnen: wahrscheinlich alt bis hochbetagt. Denn Japaner besitzen laut WHO bereits heute mit 83,7 Jahren die höchste Lebenserwartung der Welt. Das 100. Lebensjahr erreichen? In Japan schon lange keine Schlagzeile mehr wert. Mehr als eine halbe Million über 100-Jährige werden hier 2060 leben – gegenüber heute ein Anstieg um das Fünfzigfache. Damit wird die Bevölkerungsgruppe zukünftig genauso groß sein wie die der Neugeborenen.
Ein wirklicher Masterplan, um das Blatt zu wenden, scheint nicht zu existieren. Es mangelt an bezahlbaren Kitaplätzen; Unternehmen schätzen es häufig, wenn Mitarbeiter ihren Jahresurlaub verfallen lassen; Elternzeit ist nicht immer gern gesehen. So nützt es dann auch wenig, wenn Prominente von Plakaten lächeln und für Nachwuchs werben. „Familienpolitik“ – im Japanischen gibt es dafür nicht einmal ein Wort.
Pflegeroboter statt Einwanderer
Die Pflegeversicherung wurde erst im Jahr 2000 eingeführt, Wohlfahrtsverbände gibt es genauso wenig wie eine Migrationspolitik. Dabei bräuchte Japan diese dringend. Laut Berechnungen der Vereinten Nationen wären rund 10 Millionen Einwanderer pro Jahr nötig, um die Erwerbsbevölkerung zu halten.
Doch Parteien und Gewerkschaften plädieren für Abschottung, setzen lieber auf Pflegeroboter als auf Pflegekräfte aus dem Ausland. So sind es vor allem die Familie, die Zivilgesellschaft und das Engagement der Alten selbst, die die Auswirkungen des demografischen Wandels bisher mit abfedern.
Ältere gehören fest zum Stadtbild
„In Japan sind Ältere seit jeher stark in die Gesellschaft eingebunden“, sagt Shingo Shimada. Er befasst sich als Soziologieprofessor an der Universität Düsseldorf mit den Altersfragen seines Heimatlandes. „Traditionell gelten Ältere als weise und lebenserfahren, Achtung und Respekt spielen eine große Rolle“, sagt Shimada. Was ihn in seinen Feldforschungen immer wieder beeindrucke, sei die totale Akzeptanz des Alterns als natürliches Phänomen. Gebrechen werden nicht als Manko angesehen, die Person wird angenommen, wie sie ist.
Während man die Alten hierzulande mitunter in der Öffentlichkeit vergeblich sucht, gehören sie in Japan fest zum Stadtbild. Jüngst hat dies der Fotograf Lee Chapman anhand von Tokio dokumentiert: Seine Bilder zeigen ältere Menschen bei ihrer Arbeit in Schusterwerkstätten, Imbissküchen oder hinter der Theke einer Bar. Zwar oft gekrümmt vom hohen Alter, aber noch immer aktiv und mittendrin.
Laut Shimada sei es neben der guten medizinischen Versorgung und der gesunden fett- und fleischarmen Küche vor allem diese Aktivität, die Japaner überhaupt erst so alt werden lässt. So gehöre es zur allgemeinen Moral, möglichst lange ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein. „Es herrscht eine gewisse Erwartungshaltung: Jeder – unabhängig von Status und Alter – soll etwas zur Gesellschaft beitragen“, so Shimada. Dies gilt insbesondere für die Arbeitswelt. 2005 waren über 41 Prozent der 65- bis 69-Jährigen noch erwerbstätig. In Deutschland gingen im selben Zeitraum nur gut fünf Prozent noch einer Beschäftigung nach.
Ob als Aushilfe im Gemeindebüro, als Leih-Oma oder als Gärtner im Park – die sogenannten „silbernen Humanressourcen“ sind elementar für das Funktionieren der japanischen Gesellschaft. Einer Erhebung zufolge würde rund ein Drittel der japanischen Männer gern erst mit 70 in Rente gehen, 11 Prozent könnten sich sogar vorstellen, bis zum 75. Lebensjahr zu arbeiten. „Nure ochiba“ nennen Ehefrauen ihre verrenteten Männer: Ohne Lebensaufgabe seien sie so nutzlos wie „nasses Laub“.
Das Modell des Drei-Generationen-Haushalts bröckelt
Aber es ist nicht allein der japanische Arbeitsethos, der die Menschen zum Erwerb über das Renteneintrittsalter hinaus anhält: Nach Irland besitzt Japan das zweitniedrigste Rentenniveau aller OECD-Länder. Altersarmut ist ein immens großes Thema und „ie“, die traditionelle japanische Familie, daher noch immer zentral. In ihr ist es der älteste Sohn, der die Eltern im Alter bei sich aufnimmt und mit ihnen einen Drei-Generationen-Haushalt bildet.
Doch dieses Modell, auf das sich die Sozialpolitik lange verlassen hat, bröckelt. 1970 lebten noch 50 Prozent der über 65 Jahre alten Japaner in einer solchen Gemeinschaft, heute sind es nur noch 32 Prozent. Vor allem auf dem Land können sich die Kinder die Achtung vor dem Alter nicht mehr „leisten“, ziehen zunehmend schweren Herzens in die Städte. Zurück bleiben die Alten in aussterbenden Dörfern.
Dorfrettung und Nachbarschaftshilfe
Der Staat reagiert darauf mit lokalen Initiativen. Zum Beispiel mit sogenannten Dorfrettern, jungen Männern und ihren Familien, die die Orte mit kreativen Impulsen wie dem Biogemüseanbau wiederbeleben sollen. Institutionalisiert und landesweit vernetzt sind diese Maßnahmen nicht. Wo sie fehlen, springt die engagierte Zivilgesellschaft ein: Über 300.000 Nachbarschaftsorganisationen gibt es in Japan. Ehrenamtliche betreuen Demenzkranke, übernehmen Einkäufe oder organisieren Feste.
52 Prozent dieser Freiwilligen sind selbst über 60. Sie sind die „jungen Alten“ Japans, eine Zielgruppe, die längst von allen Seiten umworben wird. Universitäten, denen der klassische Nachwuchs ausgeht, buhlen ebenso um sie wie Unternehmen, die den „Silver Market“ für sich entdeckt haben. Autos mit extra großen Rückspiegeln, Städtetrips mit kurzen Fußwegen oder die avisierte Weltmarktführung für Gehhilfen mit intelligenter Steuerung – der demografische Wandel bringt der japanischen Wirtschaft durchaus auch Gewinne.
Sich nur auf die Alten einzustellen, reicht freilich nicht aus. „Japan wie Deutschland müssen sich wandeln“, sagt Soziologieprofessor Shimada. Mehr Zuwanderung, mehr arbeitende Frauen und längere Lebensarbeitszeiten, dann könne der „Countdown zum Untergang“ vielleicht noch gestoppt werden. Und die japanische Gesellschaft liefe nicht Gefahr, ihre beispielhaft positive Sicht auf das Altern einzubüßen.