Wie Pendeln krank macht und was man dagegen tun kann
Immer mehr Menschen legen für die Arbeit lange Wege zurück. Das belastet auf Dauer Körper und Seele. Muss es aber nicht, wenn Pendler ein paar Dinge beachten.
Morgens pünktlich im Büro zu sein, ist für Jens Hartmann (Name geändert) oft wie ein Glücksspiel. Auf der Bundestraße 96 Richtung Berlin läuft es in der Regel flüssig, entlang der Stadtautobahn hingegen stockt es eigentlich immer. Wenn er dann mal wieder Stoßstange an Stoßstange steht, braucht der Ingenieur, der in der Hauptstadt arbeitet und in einem brandenburgischen Dorf ohne Bahnanschluss lebt, für die Strecke gut und gerne anderthalb Stunden. Retour oft dasselbe.
Immer mehr Pendler fahren immer längere Strecken
Knapp 13 Millionen Deutsche dürften so etwas kennen. Sie gehören zu den 40 Prozent der Beschäftigten, die für den Arbeitsweg ihren Heimatlandkreis verlassen und damit per Definition als Pendler gelten. Seit den 1990er-Jahren hat sich ihre Zahl nicht nur vervierfacht, auch die zurückgelegten Entfernungen sind immer länger geworden. Fast jeder fünfte Berufspendler ist täglich mindestens 50 Kilometer mit Auto, Bus oder Bahn unterwegs – ein Anstieg von 30 Prozent in den letzten zwei Jahrzehnten. Hochgerechnet auf das gesamte Erwerbsleben bedeutet das: Wer eine halbe Stunde braucht, um für den Job von A nach B zu kommen, verbringt ein ganzes Jahr hinterm Lenkrad oder auf der Schiene.
Von Rückenschmerzen bis Depressionen
Zeit, die uns nicht unbedingt guttut. „Alles, was länger als 45 Minuten pro Fahrtstrecke dauert, ist ungesundes Pendeln“, sagt Hannes Zacher, Arbeitspsychologe von der Universität Leipzig. Untersuchungen belegen, dass bei Pendlern etwa ab diesem Zeitpunkt die Lebenszufriedenheit sinkt, dass sie verstärkt an Kopf-, Rücken- und Magenschmerzen leiden, vermehrt zu Übergewicht neigen und ein erhöhtes Herzinfarktrisiko besitzen.
„Zudem beobachten wir, dass auch psychische Erkrankungen zunehmen. Das reicht von Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen bis hin zu einer ausgewachsenen Depression oder einem Burnout. Immer mehr Menschen empfinden ihre Arbeit als belastend – und der Weg dahin ist hierbei ein entscheidender Faktor“, so Zacher. Dies bestätigt auch eine Studie der Techniker Krankenkasse (TK): Pendler mit langem Arbeitsweg fehlen demnach rund elf Prozent häufiger als Beschäftigte mit kurzer Anfahrt.
Stress und mangelnde Schonung
Die Hauptursache des sogenannten „Pendler-Syndroms“: Stress. Staus oder Parkplatzsuche verstärken den Zeitdruck. Auch in der Bahn setzen überfüllte Abteile, mehrmaliges Umsteigen oder Zugausfälle den Nerven zu. So konnte der britische Stressforscher David Lewis zeigen, dass schon leichte Zugverspätungen die Pulsfrequenz ähnlich wie bei Kampfpiloten in die Höhe treiben. Hinzu kommen ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel. Hier ein paar Pommes an der Raststätte, dort eine Currywurst am Bahnhof. Wegen der knappen Zeit haben Pendler auch weniger Gelegenheiten für Sport und gehen bei Beschwerden mitunter nicht rechtzeitig zum Arzt.
„All das setzt schleichend ungesunde Prozesse in Gang“, sagt Psychologe Zacher. „Die Auswirkungen zeigen sich oft erst nach Jahren des Pendelns.“ Die Nebeneffekte extremer Pendelei können schlussendlich sogar die Lebenserwartung verkürzen.
Pendlerzahlen dürften kaum sinken
Ein Rückgang der Pendlerzahlen ist nicht zu erwarten. Steigende Mieten in den Innenstädten machen es für viele unmöglich, in der Nähe ihres Arbeitsplatzes zu wohnen. Das wirtschaftliche Auseinanderdriften der Regionen tut ihr Übriges dazu. Heimarbeit ist zwar im Kommen, doch für viele Handwerks- oder Dienstleistungsberufe nicht praktikabel. Laut Zacher gibt es auch einen Wertewandel: „Viele wollen beides: den gutbezahlten Job in der Stadt und das Häuschen im Grünen. Dafür nehmen sie immer weitere Strecken in Kauf.“
Strategien gegen Stress und Bewegungsmangel
Damit diese nicht krank machen, sollte man sich die Zeit des Pendelns so angenehm und gewinnbringend wie möglich gestalten, rät der Experte. „Wichtig ist es, dem Unterwegssein einen Sinn zu geben und es nicht als vergeudete Lebenszeit zu betrachten.“ Im Auto Podcasts hören oder seinen Gedanken nachhängen, in der Bahn lesen oder sich mit dem Sitznachbarn unterhalten – all das gibt dem Arbeitsweg eine positive Bedeutung.
„Rund 20 Prozent der Pendler, mit denen ich für meine Forschung spreche, genießen das Ganze sogar. Für sie ist Pendeln das, was viele übersehen: Zeit nur für mich, fernab vom Arbeits- und Familienalltag.“ Mit einer solchen Grundeinstellung gelinge es auch leichter, seine Emotionen zu kontrollieren und schädlichen Stress zu vermeiden, wenn durch Baustellen oder vereiste Schienen mal wieder nichts mehr geht.
Bewegung in den Arbeitsweg integrieren
„Zudem sollte man versuchen, die mangelnde Bewegung auszugleichen“, so Zacher. Er selbst verzichtet oft auf die überfüllte Straßenbahn und macht lieber einen 30-Minuten-Spaziergang zum Büro. Auf längeren Strecken ist ein solch aktives Pendeln ebenfalls möglich. Indem man sein Auto zum Beispiel nicht direkt vor der Arbeitsstätte parkt oder am Bahnhof ein Fahrrad deponiert und den Rest des Weges in die Pedale tritt.
Dass sich eine solche Strategie auszahlt, belegt eine aktuelle Untersuchung aus Österreich und der Schweiz mit rund 70 Personen. Mediziner teilten die Probanden in drei Gruppen auf: Die einen fuhren wie gewohnt mit dem Auto zur Arbeit, die anderen nutzten über ein Jahr hinweg für einen Teil der Strecke entweder das Fahrrad oder sie gingen zu Fuß – und nahmen ergänzend Bus und Bahn. Das Ergebnis: Bei beiden aktiven Gruppen konnten die Forscher nach Ablauf des Zeitraums eine deutliche Steigerung der Leistungsfähigkeit nachweisen, verglichen mit jener Gruppe, die mit dem Auto zur Arbeit gefahren war. „Beide Tätigkeiten, das Gehen und das Radfahren, sind in ihren gesundheitsfördernden Effekten ähnlich“, sagt der Kardiologe David Niederseer, der an der Studie mitgearbeitet hat.
Jens Hartmann hat seinen Pendelstress mittlerweile etwas reduziert. Mit einer Kollegin hat er eine Fahrgemeinschaft gegründet, bei seinem Chef konnte er einen Tag Homeoffice heraushandeln. Jeden Freitag kann er nun sogar seinen Sohn vom Kindergarten abholen. Pünktlich und ohne erhöhten Puls.