Im Videochat mit Oma
Immer mehr ältere Menschen gehen online. Zum Glück: Denn digitale Dienste können Einsamkeit und den Verlust der Selbstständigkeit im Alter lindern.
Dagmar Hirche ist viel unterwegs. Neulich war sie in Berlin. 70 Senioren hat die Hamburgerin dort in digitalen Themen geschult. Nicht „Workshops“, sondern „Gesprächsrunden“ nennt sie ihre Veranstaltungen. Denn Leistungsdruck soll gar nicht erst aufkommen. Jeder darf Fragen zum Gebrauch von Smartphone und Tablet stellen. Geduldig und mit Humor erklärt Hirche, wie WhatsApp funktioniert, was die Handy-Kamera alles kann, wie man online shoppt oder Bankgeschäfte erledigt.
„Über die Jahre habe ich beobachtet, wie unsere Welt immer digitaler wird“, sagt die 64-Jährige, „und mich dabei gefragt, wer hier eigentlich die älteren Menschen mitnimmt. Die erschreckende Erkenntnis: so gut wie niemand.“ Also wurde sie vor acht Jahren mit ihrem Verein „Wege aus der Einsamkeit“ selbst aktiv. 85 Prozent der Teilnehmer sind zwischen 72 und 87 Jahren alt. Die Älteste, die dank Hirche und ihrem Team online geht, ist 95.
Nur die Hälfte der Älteren ist digital unterwegs
Ansonsten sind noch immer viele Ältere offline. Laut der Digitalisierungsinitiative D21 nutzten 2020 nur 52 Prozent der über 70-Jährigen das Internet. Seit 2001 hat sich diese Quote zwar beachtlich erhöht – damals lag sie bei nur rund fünf Prozent –, aber trotzdem klafft im Vergleich zu den Jüngeren hier nach wie vor eine riesige Lücke.
„Das ist angesichts des demografischen Wandels und der steigenden Lebenserwartung ein riesiges Problem“, sagt Herbert Kubicek, pensionierter Informatik-Professor an der Universität Bremen. Seit Jahren forscht er zur Digitalisierung der älteren Bevölkerung und weiß, warum es hier hakt. Viele seien – zum Beispiel im Berufsleben – nie mit digitalen Anwendungen in Berührung gekommen. „Man glaubt, das Internet sei nur etwas für die Jungen, und sieht für sich keinen Nutzen.“ Hinzu käme mangelndes Selbstvertrauen. Was geschieht, wenn ich mein Passwort vergesse oder die Webseite nach dem x-ten Update plötzlich wieder völlig anders aussieht?
„Digitalambulanzen“ für Erste Hilfe am Smartphone
Die Bundesregierung will solche Vorbehalte abbauen und hat dafür den „DigitalPakt Alter“ ins Leben gerufen. Das Vorhaben: 100 sogenannte „Erfahrungsorte“ – darunter Begegnungsstätten oder Seniorentreffs – bekommen je 3000 Euro, um Angebote zur Förderung der Digitalkompetenz zu schaffen. Schön und gut, findet Informatiker Kubicek, aber im Endeffekt nicht ausreichend. „Im Grunde brauchen wir in jeder Nachbarschaft eine ‚Digitalambulanz‘. Orte also, wo einem bei Problemen schnell und unkompliziert geholfen wird.“
Bei Dagmar Hirche haben sich bisher über 14.000 Senioren auf das Abenteuer Internet eingelassen. Allein während der Corona-Pandemie kamen rund 6000 Teilnehmer hinzu. Ihre einstimmige Meinung: Digitale Geräte sind das Fenster zur Welt. Da ist von weniger Einsamkeit die Rede, erzählt Hirche, da man nun vielfältiger mit Kindern und Enkeln kommunizieren oder online an Yoga-Kursen oder Schlagerpartys teilnehmen kann. Andere berichten davon, sich endlich nicht mehr abgehängt zu fühlen. Auch Kubicek weiß um die lebensverändernde Wirkung der Digitalisierung. Für eine Studie ließ er 300 Senioren acht Wochen lang ein Tablet testen. Darunter war ein älterer Herr, der sich – aus Angst sich zu verlaufen – kaum noch vor die Tür traute. Dank der Navigationssoftware erkundet er jetzt wieder seine Umgebung und ist körperlich aktiv.
Länger selbständig dank Telemedizin und Smart Home
Vielleicht ist dies sogar der wichtigste Vorteil der Digitalisierung: die Möglichkeit, lange selbstständig zu sein. „Niemand möchte ins Pflegeheim. Aber dafür muss man den Schritt in die digitale Welt tun“, sagt Hirche mit Nachdruck. Vor allem Telemedizin sei hier das Thema der Zukunft. Bestes Beispiel: ihr Vater, 93 Jahre alt. Eigentlich müsste er ins Heim, weil der Körper nicht mehr so recht mitspielt und der Weg zum Hausarzt für ihn zu beschwerlich ist. Doch Online-Sprechstunden haben dieses Problem gelöst.
Ähnlich sieht es bei Kubiceks 95-jähriger Schwiegermutter aus. Seit Kurzem hängt in deren Küche eine Smart Home-Kamera, über die seine Frau im Auge behalten kann, ob sie ihre Medikamente nimmt oder die Kaffeemaschine ausschaltet. Auch Forscher der Hochschule Kempten sehen in solcher Technik enormes Potenzial und haben eine digitalisierte Seniorenwohnung entwickelt: Sprache schaltet hier das Licht an und aus, Sensoren in der Toilette analysieren den Urin und leiten das Ergebnis weiter, Sensoren im Boden zeichnen Bewegungen auf und lösen, falls man stürzt, einen Alarm aus. Natürlich muss man hierfür fit am Smartphone oder Tablet sein, denn all diese Funktionen sind App-gesteuert.
„Ich kann daher nur an jeden appellieren, sich ein Leben lang digital zu bilden“, sagt Hirche. Auch die Jungen sollten sich nicht auf ihrem Facebook- oder YouTube-Kenntnissen ausruhen. „Die Technik wird sich rasant weiterentwickeln. Wollen wir sie für ein gutes Leben im Alter nutzen, müssen wir offen und neugierig sein.“