Geschwisterliebe verlängert das Leben
Liegt die Lebenserwartung in den Genen? Wie wichtig sind enge soziale Kontakte? Ein Blick auf die Forschung rund um Brüder und Schwestern liefert Antworten.
Ob „Hänsel und Gretel“ oder „Die drei Schwestern“: In Grimms Märchen wimmelt es nur so vor Geschwistern. Dass diese Beziehungen so eine große Rolle spielen, hat viel mit denen zu tun, die die Geschichten aufgeschrieben haben. Denn auch Jacob und Wilhelm Grimm waren Brüder – und obendrein die Hauptfigur im Leben des jeweils anderen. Ihr Verhältnis war so eng, dass sie stets gemeinsam arbeiteten und sich, trotz Heirat und Familiengründung, eine Wohnung teilten.
Reichlich Zeit zu zweit hatten die beiden. Wilhelm wurde 73, Jacob 78 Jahre alt. Beachtlich, wenn man bedenkt, dass Männern im 19. Jahrhundert nur eine Lebenserwartung von 35,6 Jahren vergönnt war. Zurecht interessiert sich die Wissenschaft daher für die Frage, ob es vielleicht eine Art „Geschwister-Bonus“ gibt und das Vorhandensein von Brüdern oder Schwestern womöglich Einfluss auf Gesundheit und Lebenslänge hat. Vier Erkenntnisse deuten darauf hin.
1. Je inniger die Geschwisterbeziehung, desto länger das Leben
Das Verhältnis von Geschwistern ist einzigartig. Sie haben dieselbe familiäre Vergangenheit und damit einen gemeinsamen Erfahrungsschatz. Sie sind allgegenwärtige Spielgefährten, Beschützer auf dem Schulhof, Verbündete gegen die Eltern, Vorbilder für die eigene Lebensweise. All das erhöht die Chance, ein festes emotionales Band zu weben, dem die Gebrüder Grimm wohl zu einem gehörigen Teil ihr außergewöhnlich hohes Alter zu verdanken haben. Das zumindest legt die Zwillingsforschung nahe. So zeigte sich bei der Auswertung des Todesalters von 3000 dänischen Zwillingspaaren, dass erstaunlich viele von ihnen länger lebten als der Rest der Bevölkerung.
Ein Grund dafür könnte die kontinuierliche soziale Unterstützung sein, die Zwillinge, aber auch „normale“ Brüder und Schwestern, gegenseitig leisten. Denn oft ist ihre Beziehung die längste des Lebens, weil Eltern irgendwann sterben, Freundschaften zerbrechen können und Ehen auch nicht immer ewig halten. Vor allem im Alter gehören sie zu den wichtigsten Bezugspersonen. Dann haben sich Konflikte und Rivalitäten aus früheren Jahren häufig verflüchtigt und man schützt sich vor schädlicher Einsamkeit.
2. Wie alt Geschwister werden, hat wenig mit den Genen zu tun
Geschwister haben rund 50 Prozent des Erbguts gemeinsam. Das spiegelt sich im Aussehen wider, in der Körperstatur oder der Anfälligkeit für Krankheiten. Allerdings: Im Fall der Lebenserwartung sind Brüder und Schwestern fast wie Fremde. Denn wird ein Geschwisterteil zum Beispiel 90, ist die Chance, dass auch der andere Teil so alt wird, nur 1,7-Mal höher als bei einer durchschnittlichen Person desselben Jahrgangs. Sogar bei Zwillingen, deren Erbanlagen sich noch mehr gleichen, schlägt der genetische Einfluss kaum durch. Bei rund der Hälfte von ihnen liegen zwei Jahre zwischen dem Tod von Zwilling 1 und 2; bei der anderen Hälfte sind es zehn Jahre oder mehr. Im Vergleich zu Geschwistern, die nicht am selben Tag geboren wurden, ist die Übereinstimmung beim erreichten Lebensalter damit nur unwesentlich höher.
Dass die Grimms beide über 70 wurden, liegt daher wohl vor allem an ihrem recht ähnlichen Lebensstil. Als Hochgebildete waren sie nicht von Armut betroffen und hatten – eher asketisch eingestellt – auch nicht viel übrig für giftige Stoffe wie Alkohol und Tabak.
3. Die Geburtenreihenfolge spielt eine (kleine) Rolle
Doch warum wurde Jacob fünf Jahre älter als sein Bruder Wilhelm? Die Vermutung so mancher Forscher: Weil er der Erstgeborene war. Laut einer Studie aus den USA hat das erste Kind im Gegensatz zu seinen Geschwistern eine 1,7-Mal höhere Chance, mindestens 100 Jahre zu werden. Eine mögliche Erklärung: Die Mutter ist in der ersten Schwangerschaft jünger und fitter ist und achtet noch besonders auf ihre Gesundheit. Ist Sprössling Nr. 1 dann auf der Welt, hat er eine Zeit lang die volle Aufmerksamkeit seiner Eltern und wird ohne „Nebenbuhler“ körperlich und geistig gefördert. Mögliche Folgen liefert das Max-Planck-Institut für demografische Forschung: Erstgeborene gehen im Schnitt ein Jahr länger zur Schule, haben einen etwas höheren IQ und studieren eher als ihre Geschwister Medizin oder Ingenieurwesen – Fächer also, mit denen man später gutes Geld verdienen kann. Kein unerheblicher Fakt, wenn man bedenkt man, dass die Höhe des Einkommens durchaus die Lebenserwartung beeinflusst.
Natürlich ist all das reine Statistik und sagt nichts über den Einzelfall aus. Wie Erst- oder Zweitgeborene, „Sandwichkinder“ oder Nesthäkchen ihr Leben gestalten, wird auch durch Aspekte wie Familiengröße, Erziehungsstil, ökonomischer Background und Altersabstand zwischen den Geschwistern geprägt.
4. Geschwistern geht es gesundheitlich besser als Einzelkindern
Überhaupt Geschwister zu haben, scheint jedoch von Vorteil zu sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von schwedischen und britischen Forschern. Sie analysierten Gesundheitsdaten von Menschen, die zwischen 1940 und 1975 geboren wurden, und legten ihr Augenmerk auf die Faktoren Körpergröße, Fitness, Übergewicht im jungen Erwachsenenalter und Sterblichkeit ab dem 50. Lebensjahr. Ihre Vermutung, Einzelkinder würden überall besser abschneiden, weil sie – anders als Geschwister – die Ressourcen der Eltern für sich allein haben, bestätigte sich dabei nicht. Vielmehr hatten sie eine höhere Sterberate, waren tendenziell etwas kleiner, weniger fit und häufiger übergewichtig. Der Grund für Letzteres könnte sein, dass Einzelkinder statistisch häufiger Fast Food essen und länger vor dem Fernseher oder Computer sitzen. Vielleicht, weil sie öfter allein sind und dies das Risiko erhöht, sich zu langweilen.
Einzelkinder dürfen dennoch unbesorgt sein: Die Gebrüder Grimm hätten den lebensverlängernden „Geschwister-Bonus“ auch einstreichen können, wenn sie nicht unter derselben Adresse aufgewachsen wären. Weil auch ein Freund wie ein Bruder und eine Cousine wie eine Schwester sein kann.