Geboren, um zu leben
Vor 150 Jahren war die Lebenserwartung nur halb so hoch wie heute. Hauptgrund: Viele Kinder starben schon kurz nach der Geburt. Das ist heute anders – dank vieler medizinischer Durchbrüche.
Carmel Therese Harrington und ihr Mann haben das für Eltern wohl Furchtbarste erlebt. Mit nur wenigen Monaten starb ihr Sohn Damien. Völlig unerwartet im Schlaf. Die Ursache für diese Tragödie – der Plötzliche Kindstod – war lange ein Rätsel. So verwandelte Harrington ihre persönliche Erfahrung in beruflichen Ehrgeiz und ging dem Grund für Damiens Tod auf die Spur. Vor zwei Jahren gelang der australischen Biomechanikerin offenbar der Durchbruch. Mit ihrem Team fand sie heraus, dass mit großer Sicherheit ein bestimmtes Enzym verantwortlich ist. Ist es zu wenig aktiv, wacht der Säugling nicht auf, wenn im Schlaf kurz die Atmung aussetzt.
Dies ist nur ein Beispiel, wie es der medizinische Fortschritt heutzutage immer unwahrscheinlicher macht, dass Kinder sterben. Früher dagegen, als man noch nichts über die Existenz von Enzymen, aber auch von Bakterien und Viren wusste, stand bereits am Lebensanfang oft der Tod. Noch um 1800 wurde die Hälfte aller deutschen Kinder keine fünf Jahre alt. 1871 ereilte dieses Schicksal jeden dritten jungen Erdenbürger; ein Viertel aller Neugeborenen starb damals sogar innerhalb des ersten Lebensjahrs.
Infektionskrankheiten grassierten bei Arm und Reich
Die hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit hatte viele Gründe. Einer davon: Unwissenheit. Säuglinge starben an Lungenentzündung, weil man sie auch bei Kälte oft nur leicht bekleidete. Ein Großteil wurde nicht gestillt, sondern mit Kuhmilch oder Mehlbrei gefüttert, was vom Baby nicht verdaut werden konnte und es schwächte. Viele Krankheitssymptome verband man zudem mit dem Zahnen. Statt den Arzt aufzusuchen, stellte man die Kinder mit in Branntwein durchtränkte Stoff-Schnuller ruhig. Was natürlich nichts half, denn meist wüteten Bakterien oder Viren in den kleinen Körpern.
Gefährliche Erreger lauerten in verunreinigtem Trinkwasser und kontaminierten Lebensmitteln und lösten Durchfallerkrankungen wie Ruhr oder Cholera aus. Über die Luft verbreiteten sich Masern oder Keuchhusten – besonders in ärmeren Familien, die in der Stadt und auf dem Land häufig in beengten Verhältnissen lebten. Geschwister steckten sich so rasend schnell gegenseitig an und verstarben nicht selten nacheinander binnen weniger Wochen. Infektionskrankheiten rafften aber auch viele Kinder der Mittel- und Oberschicht dahin. Wolfgang Amadeus Mozart verlor vier seiner sechs Nachkommen im Säuglingsalter. Auch bei Johann Wolfgang von Goethe überlebte nur ein Sohn von insgesamt fünf Nachkommen.
Kindersterblichkeit senkt durchschnittliche Lebenserwartung
Die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit war es dann auch, die früher maßgeblich für die niedrige durchschnittliche Lebenserwartung verantwortlich war. Bei Geburt betrug diese zwischen 1871 und 1881 bei Jungen 35,6 und bei Mädchen 38,5 Jahre. Nur 31 Prozent der Männer und 35 Prozent der Frauen erreichten damals das 60. Lebensjahr. Auch deshalb, weil in der Kindheit durchgestandene Erkrankungen wie Tuberkulose Langzeitfolgen hinterließen, die das Erwachsenenleben verkürzten.
Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts war die Zeit der Hilflosigkeit jedoch langsam vorbei. Hatte man bis dahin außer Wadenwickel, Einreibungen, Gurgellösungen und Blutegeln den Krankheiten kaum etwas entgegenzusetzen, folgte nun ein medizinischer Meilenstein dem anderen. Nach Einführung der Pockenimpfpflicht in Bayern beispielsweise sank dort die Kindersterblichkeit auf rund 20 Prozent. Auch die Diphterie, der „Würgeengel der Kinder“, verlor ab 1894 ihren Schrecken. Fielen im Deutschen Kaiserreich jährlich noch rund 50.000 unter Fünfjährige der bakteriellen Infektion zum Opfer, halbierte sich diese Zahl nach der Entwicklung einer Serumtherapie. Revolutionär war auch die Entdeckung von Penicillin, dem ersten Antibiotikum, im Jahr 1928. Typhus und Fleckfieber ließen sich damit endlich wirksam behandeln.
Kinderheilkunde entwickelt sich zu eigenem Fach
Obendrein etablierte sich die Kinderheilkunde Anfang des 20. Jahrhunderts als eigenes Fach in der Medizin. Vor allem die Säuglingssterblichkeit rückte in den Fokus von Forschung und Aufklärung. Durch Broschüren, Wanderausstellungen und in Beratungsstellen informierte man über das Stillen und den Körperbau von Babys, erklärte, wie man sie pflegt, warum Wasser abgekocht werden sollte und wodurch sich Krankheiten sonst noch verhüten lassen. Neue Verfahren wie das Pasteurisieren, eine bessere Trinkwasserversorgung, der Bau von Kanalisationen und ein allgemein steigender Wohlstand erhöhten zusätzlich die Überlebenschancen. Starben 1938 noch sechs Prozent der Kinder vor Vollendung des fünften Lebensjahrs, waren es 1970 „nur“ noch 2,5 Prozent.
Heute wird jedes dritte Mädchen 100 Jahre
Heute liegt die Kindersterblichkeit im Promillebereich. Lediglich vier von 1.000 Lebendgeborenen, also 0,4 Prozent sind davon betroffen. Neugeborene Jungen werden mittlerweile im Schnitt 90,2 und Mädchen 93 Jahre alt. Jedes dritte hat sogar gute Chancen, den 100. Geburtstag zu feiern.
Auch Carmel Therese Harrington könnte der Lebenserwartung einen weiteren kleinen Anstieg verpassen. Denn die Forscherin entwickelt gerade einen Risiko-Test für den Plötzlichen Kindstod. Funktioniert dieser, hätten bald auch jene rund 100 Säuglinge, die in Deutschland jährlich daran sterben, die Aussicht auf ein langes Leben.