Verwandtschaftsbeziehungen

20.02.2024

Fami­lien wer­den immer klei­ner – und älter

Während die Lebenserwartung steigt, sinken weltweit die Geburtenraten. Das hat Auswirkungen auf die Struktur von Familien. Die Zahl der Tanten, Cousins oder Nichten nimmt ab, die der Großeltern dagegen zu.

© Liubov Kaplitskaya / iStock / Getty Images Plus

Großfamilien werden immer seltener. Die Zahl der Kinder geht zurück – und mit ihnen die Zahl der Verwandten.

Im Haushalt von Monika und Paul Adler ist immer was los. Acht Kinder hat das Ehepaar aus Düsseldorf, darunter zwei Mal Zwillinge. Sie alle wachsen nicht nur mit vielen Geschwistern und in einer der größten Familien Deutschlands auf, sondern werden, wenn die nächste Generation auf der Welt ist, auch Teil eines riesigen Geflechts aus weiteren Verwandten sein. Bekäme jedes der acht selbst nur zwei Kinder, hätten diese sage und schreibe sieben Tanten und Onkel sowie 14 Cousinen und Cousins. 

Familiengröße sinkt um 35 Prozent

Großfamilien wie die Adlers sind hierzulande freilich eine Seltenheit. Und in Zukunft werden sie das wohl auch weltweit sein. Das ist das zentrale Ergebnis einer neuen großen Studie, durchgeführt von Forschern der Universitäten in Buenos Aires und Amsterdam sowie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock. „Familien werden rund um den Globus in Bezug auf die Anzahl der Verwandten immer kleiner“, so Diego Alburez-Gutierrez, Leiter der Forschungsgruppe Ungleichheiten in Verwandtschaftsbeziehungen am MPIDR. „Obendrein nehmen sie dabei eine ‚vertikalere‘ Struktur an.“ Heißt: Menschen haben zunehmend weniger Familienmitglieder in der Seitenlinie. Zum Beispiel Verwandte dritten und vierten Grades wie Nichten und Neffen oder Cousinen oder Cousins.

Wie dramatisch die Familiengrößen in den nächsten rund 70 Jahren schrumpfen werden, zeigen die von den Wissenschaftlern berechneten Zahlen. Darunter die 35. Um so viel Prozent wird die Menge an Verwandten pro Erdenbürger durchschnittlich zurückgehen. Oder die 25. So viele lebende Familienangehörige wird eine 65-jährige Frau 2095 besitzen. Zum Vergleich: Im Jahr 1950 waren es noch 41. Zudem ist es wahrscheinlich, dass sich die Familiengrößen weltweit angleichen. So lag 1950 die Differenz zwischen Simbabwe, dem Land mit den größten Familien, und Italien, dem Land mit den kleinsten Familien, bei 63 Verwandten. 2095 wird ein Simbabwer nur noch elf Angehörige mehr zu seiner Familienfeier einladen können.

Weniger Verwandte, weniger Unterstützung

In Deutschland indes bleibt die Zahl der Gäste relativ stabil und übersichtlich. Hier sinkt laut Prognose die Verwandtenzahl von heute durchschnittlich 16 auf 14. Denn eine Entwicklung, die viele Länder noch vor sich haben, ist in Europa und Nordamerika bereits weit fortgeschritten: der Rückgang der Geburtenrate. Bekam eine deutsche Frau 1960 im Schnitt 2,35 Kinder, waren es 2022 nur noch 1,46. Rund jede fünfte Deutsche bleibt heute zudem gänzlich kinderlos.

All das sei nichts im Vergleich zu den Ländern des globalen Südens, in denen die Veränderungen weitaus gravierender sein werden, sagt Demograf Alburez-Gutierrez. Allein in Staaten wie Peru oder Haiti hat sich die Geburtenrate – unter anderem durch verbesserte Bildungschancen – inzwischen mehr als halbiert. „Den größten Rückgang bei der Familiengröße erwarten wir daher in Südamerika und der Karibik. Dort werden sich Familien um 67 Prozent verkleinern.“ Für den Alltag bedeutet das: Eine Frau Mitte 60 wird 2095 nur noch gut 18 lebende Verwandte haben – und damit 38 weniger als noch im Jahr 1950.

Zahl der Großeltern steigt global 

Das führt, so der Experte, zu großen gesellschaftlichen Herausforderungen. „Unsere Ergebnisse bestätigen, dass die Verfügbarkeit verwandtschaftlicher Ressourcen weltweit abnimmt. Angehörige fungieren nicht mehr als verlässliche Stütze, wenn Familien immer kleiner werden.“ Zu einem Problem wird dies vor allem in Ländern, in denen es noch kein umfassendes Netz externer Unterstützung gibt. In denen bisher statt die Kita eine Tante die Kinder betreut oder kein mobiles Pflegeteam Geschwistern dabei helfen kann, sich um die betagte Mutter zu kümmern.

Doch noch etwas anderes wird sich verändern. Indem die „vertikale“ Familienstruktur aus Verwandten ersten und zweiten Grades – also ein oder zwei Kinder, Eltern und Großeltern – mehr und mehr zum Standard wird, nimmt auch der Altersunterschied zwischen den Familienmitgliedern zu. „Familiäre Netzwerke werden also nicht nur kleiner, sondern auch älter“, sagt Alburez-Gutierrez. Treiber dieser Entwicklung ist vor allem die Lebenserwartung, die seit 1960 international von 51 auf 72 Jahre angestiegen ist. Zwar nehmen Anzahl und Vielfalt der Verwandten ab, aber mit denen, die wir haben, bleibt uns mehr gemeinsame Zeit. Für Enkel und Großeltern sind es beispielsweise hierzulande ganze 20 Jahre.

Und die Zahl der Großeltern wächst weltweit rasant an. Gab es 1960 noch rund eine halbe Milliarde Omas und Opas, werden es 2050 wohl 2,1 Milliarden sein. Während damals nur jedes zweite Kind unter 15 Jahren Großeltern hatte, fehlt heute nicht mehr viel und jedes Kind wächst mit mindestens einem Großelternteil auf. Die romantische Vorstellung, dass sich früher die Großfamilie um einen Tisch versammelte, ist daher im Grunde eine falsche. Denn erst der demografische Wandel ermöglicht es, dass drei oder gar vier Generationen beisammensitzen.

Soziales Netz außerhalb der Familie wird wichtiger

Dass wir, begleitet von weniger Verwandten, immer älter werden, ist für Bevölkerungsforscher Alburez-Gutierrez mit Chancen, aber auch Herausforderungen verbunden. „Großeltern können zum Beispiel Eltern bei der Kinderbetreuung entlasten. Andererseits können sie jedoch auch pflegebedürftig werden.“ Fehlen dann helfende Hände, erhöht das den Druck auf den Einzelnen.

Dabei müssen diese „helfenden Hände“ doch eigentlich nicht blutsverwandt sein. Zusammenhalt und Unterstützung – all das lässt sich nicht nur in der geschlossenen Einheit der Familie, sondern auch außerhalb genetischer Verwandtschaft finden. Liebevolle Paten, gute Freunde und nette Nachbarn: Sie alle können auch Familie sein und die Rolle von sieben Onkeln und Tanten sowie 14 Cousinen und Cousins übernehmen.