Ein Virus namens Einsamkeit
Die Corona-Krise zwingt Menschen zur sozialen Distanz – ein widernatürliches wie ungesundes Verhalten. Wir brauchen Kontakte, um uns wohl zu fühlen. Ein Leben lang.
Husten, Halsschmerzen, Fieber und Atembeschwerden sind Anzeichen einer Covid-19-Infektion. Doch das Corona-Virus hat noch ein weiteres Symptom im Gepäck. Kein auf den ersten Blick körperliches. Keines, das nur einer bestimmten Risikogruppe gefährlich werden kann. Es ist vielmehr ein Gefühl, das in diesen trostlosen Zeiten wohl einige verstärkt verspüren: Einsamkeit.
In der Pandemie leiden deutlich mehr Menschen darunter. Das belegen nicht nur etliche Studien, sondern auch die Statistiken der Telefonseelsorge. Ein Kuss auf die Wange oder eine spontane Umarmung unter Freunden, gemeinsame Sportaktivitäten, Kneipenabende oder Vereinstreffen, Familienfeiern oder ein Besuch im Pflegeheim: Solch früher selbstverständliche Situationen sind seit Corona und „Social Distancing“ seltener oder gar unmöglich geworden.
Mensch braucht Austausch mit anderen
„Die aktuellen Maßnahmen – so nötig sie auch sind – gehen natürlich komplett gegen unsere Natur“, sagt Karl-Heinz Ladwig, Professor für psychosomatische Medizin an der Technischen Universität München. „Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die meisten von uns brauchen ein dichtes soziales Netz und den Austausch mit anderen für ihr Wohlbefinden.“ Sich ungewollt verlassen zu fühlen, niemanden zu haben, mit dem man von Angesicht zu Angesicht Probleme besprechen und gemeinsam lachen kann, sei eine der schmerzhaftesten Empfindungen der menschlichen Gefühlspalette.
Und das hat sogar etwas mit Evolution zu tun. Denn aus der Psychobiologie ist bekannt, dass der emotionale Schmerz, den man bei Einsamkeit erlebt, in den gleichen Hirnregionen verarbeitet wird wie der körperliche. Beide Schmerzreize werden somit in etwa gleich stark empfunden. „Die Biologie hat hier also ein Warnsignal eingebaut: Tue alles, um dieser sozialen Isolationssituation zu entfliehen, denn ohne die Gemeinschaft wirst du nicht überleben“, so Ladwig.
Einsamkeit ist so schädlich wie das Rauchen
Dass chronische Einsamkeit tatsächlich krankmachen kann, steht außer Frage. Experten wie der Psychiater Manfred Spitzer mahnen sogar, man hätte es hier mit dem „Lebensrisiko Nummer eins“ zu tun. Denn ob Herzinfarkt, Schlaganfall oder Diabetes; ob Demenz, Depressionen und Angststörungen: Bei all diesen Leiden scheint auch das soziale Gefüge eine Rolle zu spielen.
Eine der größten Einsamkeitsstudien mit über 300.000 Probanden richtete ihren Blick auf die Lebenserwartung. Das erschreckende Ergebnis: Menschen ohne gute Beziehungen zu Familie und Freunden haben ein Sterberisiko, das 50 Prozent höher ist als bei sozial aktiven Personen. Verglichen mit den gesundheitlichen Folgen anderer Risikofaktoren ist Einsamkeit laut Studie schädlicher als Fettsucht oder Bewegungsmangel und genauso ungesund wie Alkoholmissbrauch oder der tägliche Konsum von 15 Zigaretten.
Freunde bedeuten auch soziale Kontrolle
„Das hat natürlich etwas mit dem Lifestyle zu tun“, sagt Ladwig. Wer sich verlassen und nur sich selbst verantwortlich fühle, habe oft kaum den Willen, dem Rauchen zu entsagen oder Sport zu treiben. Befragungen belegen inzwischen, dass infolge der Corona-Pandemie die Zahl der Raucher wieder gestiegen ist und auch mehr Menschen daheim Alkohol trinken.
Für Ladwig viel interessanter ist jedoch die Frage, was Einsamkeitsgefühle konkret im Körper anrichten. In eigenen Studien fand er zweierlei heraus: Bei einsamen Menschen sind im Blut sowohl Entzündungswerte als auch der Spiegel des Stresshormons Cortisol dauerhaft erhöht. „Eine Virusinfektion oder beruflicher Stress mögen unserem Organismus punktuell mehr zusetzen. Doch Isolationsstress löst im Grunde die gleichen schädlichen Prozesse aus. Klebt Einsamkeit wie eine zweite Haut an uns, entfaltet sie schleichend ihre toxische Wirkung.“
Von außen betrachtet, scheint die Gefahr, sich einsam zu fühlen, heute so hoch wie nie. Jährlich werden 153.500 Ehen geschieden, Kinder leben beruflich bedingt oft weit von ihren Eltern entfernt und die Digitalisierung macht es mitunter leicht, Facebook-Freunde mit „echten“ Weggefährten zu verwechseln. Zudem ist die Zahl der Einpersonenhaushalte zwischen 1991 und 2018 von 11,8 auf 16,9 Millionen gestiegen. Trotzdem, so Ladwig, könne es jeden treffen. So manchem Single ist Einsamkeit unbekannt, weil er einen guten Freundeskreis hat. Die Verheiratete, in deren Ehe seit Langem Schweigen herrscht, begleitet das Gefühl hingegen ständig.
Corona-Krise: Vorschau auf das Alter?
Fakt ist jedoch: Am größten ist das Einsamkeitsrisiko im Alter. Weil die berufliche Identität wegfällt und Gelegenheiten, neue Kontakte zu knüpfen, weniger werden. Ob man diese neue Situation mental gut meistert, dafür werden die Weichen spätestens im mittleren Erwachsenenalter gestellt. „Beziehungen haben da aber leider nicht immer Priorität. Vieles wird vor allem dem Beruf geopfert“, sagt der Mediziner. Noch heute erinnere er sich an ein Gespräch mit einem ehemaligen Manager, der nach einem Herzinfarkt einsam im Krankenhaus lag und es zutiefst bereute, Familie und Freunde zeitlebens vernachlässigt zu haben.
So könnte uns die Corona-Krise mit ihrer erzwungenen sozialen Isolation durchaus auch etwas für die Zukunft lehren. Gibt mir meine Partnerschaft genug emotionalen Halt? Habe ich, falls meine Frau stirbt, weitere Bezugspersonen? Ruft mich mal jemand an – auch wenn es gerade keine Verabredungen für Konzerte oder Fußballspiele zu besprechen gibt? Kurz: Sorge ich schon jetzt sozial fürs Alter vor? Fragen, die so wichtig sind wie nie. Denn mit 65 haben wir heute im Schnitt noch zwei Jahrzehnte Lebenszeit vor uns.
„Kontakte sind überlebenswichtig“
„Jeder sollte sich jetzt mit dem Thema Einsamkeit auseinandersetzen“, fordert Mediziner Ladwig. Und das nicht nur auf sich selbst bezogen. Die ältere Nachbarin anrufen und fragen, wie es geht. Am Balkon mit dem 80-jährigen Rentner einen Plausch halten. „Solche Kontakte sind überlebenswichtig. Jeder von uns wird damit systemrelevant.“