Verhaltensroutinen

12.06.2020

Die Macht der Gewohn­heit – und wie man sie besiegt

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Manche Routinen erleichtern das Leben, andere schaden ihm. Mit ein paar Tricks lassen sich Verhaltensweisen aber ändern.

Ungesunde Verhaltensweisen wie das tägliche Bier nach Feierabend sind gar nicht so leicht abzulegen.

Können Sie sich noch erinnern, als Sie zum ersten Mal eine Schutzmaske getragen haben? Darunter zu atmen war komisch, oder? Ganz zu schweigen vom eigenen Spiegelbild, das damit etwas bizarr wirkt. Seit Einführung der Maskenpflicht in Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln sind inzwischen Wochen vergangen und das Fremdeln mit der neuen Gesichtsbedeckung dürfte sich bei vielen verflüchtigt haben. Der Griff zur Maske – so selbstverständlich wie der zum Geldbeutel. Er ist zur Gewohnheit geworden.

Zwischen 30 bis 50 Prozent unserer Handlungen werden durch Gewohnheiten bestimmt. Auf welcher Seite des Bettes man schläft, wo entlang der Arbeitsweg führt, welcher Fuß für Kupplung, Bremse und Gaspedal zuständig ist: All dies entscheidet der Mensch, ohne bewusst nachzudenken. „Gewohnheiten geben dem Alltag Struktur und machen ihn überschaubar“, sagt Josef Egger, Psychologe und Verhaltensmediziner von der Universität Graz. Gäbe es diesen „Autopilot-Modus“ nicht, wäre das Leben kaum zu bewältigen. Wir wären durch die Flut an Reizen und Situationen heillos überfordert. Das Problem: Zwischen „guten“ und „schlechten“ Gewohnheiten kann unser Gehirn nicht unterscheiden.

Gewohnheiten zu ändern, ist schwer

So schleifen sich mit der Zeit auch Automatismen ein, die schädlich für die Gesundheit sind. Der Griff zur Zigarette, der Hang zu Fast Food, das Abhängen auf der Couch vor dem Fernseher. „Gewohnheiten zu verändern oder gar zu löschen, ist schwer“, sagt Egger. Denn mit jeder Wiederholung wird daraus mehr und mehr eine Verhaltensschleife. Der Kaffee am Morgen, das Feierabendbier mit Freunden, Frust oder Nervosität: Bestimmte Tageszeiten, Situationen, Personen und Emotionen triggern zum Beispiel die Lust aufs Rauchen. Ist dieser Punkt erreicht, sitzt die Gewohnheit schon tief im Gehirn, genauer gesagt in den Basalganglien. In diesen Arealen sind Schlussfolgerungen wie „Mir ist langweilig, also rauche ich“ gespeichert.

Und dennoch: Das Gehirn lässt sich umprogrammieren. Eindrücklich zeigt das eine Studie mit Vietnam-Veteranen. Ein Fünftel von ihnen waren während des Kriegs heroinabhängig. Wieder zu Hause wurden 99 Prozent clean. „Teachable moments“ nennt das die Wissenschaft. Situationen also, die das Leben auf den Kopf stellen und es begünstigen, mit Gewohnheiten zu brechen. Das kann ein Umzug, ein Jobwechsel – aber auch die Corona-Krise sein. 

Neue Verhaltensweisen brauchen lange, ehe sie in Fleisch und Blut übergehen 

Denn vieles im Alltag ist plötzlich anders. Trigger wie die Pommesbude in der Nähe des Büros oder bierselige Kneipenabende nach Feierabend fielen lange Zeit weg. „Die aktuelle Lage eignet sich gut, um Gewohnheiten zu hinterfragen. Besonders hinsichtlich des Lebensstils“, findet Psychologe Egger. Wer den Lockdown genutzt habe, um mit dem Joggen zu beginnen oder frisch zuhause zu kochen, könne stolz auf sich sein. Soll daraus eine Gewohnheit werden, muss man allerdings längere Zeit am Ball bleiben.

Wie lange genau, haben britische Forscher ermittelt. Im Rahmen einer Studie sollten sich die Teilnehmer eine gesunde Routine aneignen: ein Spaziergang nach dem Abendessen, mittags ein Stücks Obst oder täglich 50 Sit-Ups. Das Ergebnis: Im Durchschnitt dauerte es 66 Tage, dann war die neue Gewohnheit in Fleisch und Blut übergegangen. Die US-Psychologin Wendy Wood rät, es sich dabei so leicht wie möglich zu machen. Als sie sich das Joggen angewöhnen wollte, ging sie abends gleich mit Sportklamotten schlafen und stellte die Laufschuhe direkt neben die Tür. Nach und nach verfestigen sich solche Auslösereize mental. Ein Blick auf das Equipment und es drängt einen automatisch nach draußen.

Es ist leichter, neue Gewohnheiten anzunehmen als alte abzulegen

Im Gegenzug heißt das: Den schlechten Gewohnheiten muss es schwer gemacht werden. Statt fettige Knabbereien lieber eine Obstschale auf den Couchtisch stellen, den Bierkasten in den Keller verbannen oder ein Rauchverbot in der Wohnung aussprechen. Wie wirksam solch kleine Veränderungen sind, zeigt ein simples Experiment, bei dem Fahrstühle so manipuliert wurden, dass sie sich statt nach zehn erst nach 30 Sekunden öffneten. Ein Drittel der Nutzer riss diese Verzögerung aus ihrer Routine und sie nahmen von da an die Treppe.

„Generell ist es aber leichter, sich eine neue Gewohnheit anzueignen, als eine alte loszuwerden“, sagt Psychologe Egger. Ein Grund ist der Ironie-Effekt. Vorsätze wie „Nie wieder Schokolade!“ können eigentlich nur schiefgehen, da sie das Bewusstsein für das, was vermieden werden soll, verstärken. Unser Gehirn kann nämlich kein „Nicht“ denken. Sich auf Kommando keinen rosa Elefanten vorzustellen – unmöglich. 

Mit kleinen Verhaltensänderungen anfangen  

B. J. Fogg, Soziologe von der Stanford University, warnt daher vor dem Zwang, etwas nicht zu tun, sondern empfiehlt, mit „tiny habits“ zu beginnen. Kleine Anpassungen im Alltag also, die „Appetit“ machen und das Gehirn nach und nach auf das große Ziel „Ich will gesünder leben“ trainieren. So könnte man immer einen Apfel griffbereit haben oder während die Spülmaschine läuft, ein Workout einlegen. Jede neue Routine hat eine weitere im Schlepptau und befeuert eine Kettenreaktion, an deren Ende bedeutende Veränderungen stehen: mehr Sport, Ernährung umstellen, mit dem Rauchen aufhören.

Um auf Rückfälle vorbereitet zu sein, setzt die Motivationspsychologie auf Wenn-dann-Pläne. Heißt: Wenn die Kollegen zur Raucherpause gehen, dann hole ich mir einen gesunden Snack. Wenn eine Tafel Schokolade im Einkaufswagen liegt, dann liegen dort auch fünf Sorten Obst. So wird einer schlechten Gewohnheit eine gute entgegengesetzt. Auch hilfreich am Anfang: die zeitliche Konditionierung. Statt sich nur abstrakt vorzunehmen, mehr Sport zu treiben, sollte „Mittwoch und Freitag, 18 bis 19 Uhr, Fitnessstudio“ fett im Kalender stehen.

Wer nicht in Routinen verharrt, lebt länger

„Das Wichtigste ist jedoch die positive Perspektive“, sagt Psychologe Egger. Dass man es mit Begeisterung tut und seine Erfolge belohnt. Zum Beispiel mit einer Massage nach der zehnten Joggingrunde. Manche Belohnung kommt auch erst spät im Leben. So zeigen Studien: Menschen altern gesünder und leben signifikant länger, wenn sie nicht in starren Gewohnheitsmustern verharren, sondern stets neugierig, offen und flexibel bleiben.