Genealogie

15.03.2021

Der Mythos von den „guten“ Genen

Wie alt ein Mensch wird, soll bis zu 40 Prozent vom Erbgut abhängen. Die moderne Ahnenforschung zeigt jedoch: Der Einfluss der Gene ist wohl deutlich geringer.

© Valentina Gabusi / Getty Images/iStockphoto

Die Lebensdaten der Vorfahren lassen wohl weniger Rückschlüsse auf die eigene Lebenserwartung zu als lange angenommen.

Dass das Erbgut einen Einfluss auf die Lebensdauer hat, ist unstrittig. So konnten dänische Forscher nachweisen, dass eineiige Zwillinge meist gemeinsam ein hohes Alter erreichen – selten einer allein. Mutmaßliche Ursache: ihr identischer Genpool. Und lange glaubten Wissenschaftler auch zu wissen, wie groß der Einfluss der Natur ist: nämlich 30 bis 40 Prozent, der Rest werde vom Lebensstil beeinflusst.

Doch diese Annahme hat in jüngster Zeit Risse bekommen. Ahnenforscher haben über sogenannte genealogische Datenbanken Millionen von Stammbaum-Daten ausgewertet, um den genetischen Effekt zu messen. Die Ergebnisse ihrer akribischen Suche legen den Schluss nahe, dass der Apfel doch weiter entfernt vom Stamm fällt als bislang angenommen.

Ahnenforscher korrigieren Einfluss der Gene nach unten

Yaniv Erlich, Ahnenforscher von der Columbia University in New York, beziffert den Einfluss der Erbanlagen auf die Lebenserwartung beispielsweise auf rund 16 Prozent. „Gute“ Gene könnten das Leben im Durchschnitt nur um fünf Jahre verlängern, so Erlich, der mit seinem Team 86 Millionen Abstammungsprofile auf der Gendatenbank Geni.com ausgewertet und die Lebensdaten verschiedener Verwandten verglichen hat: von Eltern und Kindern über Geschwister gleichen Geschlechts bis hin zu Cousins oder Cousinen vierten Grades. Große Ähnlichkeiten konnten die Wissenschaftler nicht feststellen – ganz im Gegenteil. Die Sterbealter wichen zum Teil stark voneinander ab.

Für Studienleiter Erlich beweisen die Differenzen vor allem eines überdeutlich: So gut wie alles hängt am individuellen Lebensstil und dem eigenen Verhalten. „Rauchen zum Beispiel kann die Lebenszeit um zehn Jahre verkürzen – und fällt damit doppelt so stark ins Gewicht wie unsere Genetik.“ Trotzdem gelten aktuell Hunderte von Genen als mitentscheidend für die Lebensdauer. Manche sollen das Risiko für Alzheimer oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken, andere vor Multipler Sklerose und Typ 1-Diabetes schützen. Ein riesiger Überlebensvorteil scheint sich daraus jedoch nicht zu ergeben. Denn jeder einzelne dieser positiven Erbfaktoren verändert die Lebenserwartung laut humangenetischer Studien nur um wenige Monate.

Vermeintliche Anti-Aging-Gene ohne große Wirkung 

Auf die geringe Bedeutung der Gene verweist auch eine Erhebung von Calico Life Science, eines Biotech-Unternehmens, das Methoden gegen die menschliche Alterung entwickelt. Ausgewertet wurden dabei Familienstammbäume des Ahnungsforschungsportal Anchestry.com mit Daten von rund 470 Millionen Menschen. Am Ende kamen die Forscher zu dem Schluss: Der Beitrag des Erbguts kann nicht mehr als sieben Prozent betragen, denn das erreichte Alter der Verwandten variierte größtenteils einfach zu stark. „Die Gene verraten uns sehr viel über die Biologie des Alterns“, so Graham Ruby, Bioinformatiker und Hauptautor der Studie. „Die Lebensdauer gehört aber offenbar nicht dazu.“

Allerdings fanden Ruby und sein Team einen anderen interessanten Zusammenhang. Nicht-blutsverwandte Familienmitglieder – zum Beispiel Ehepaare – lebten erstaunlich häufig ähnlich lange. Ein Hinweis auf die große Bedeutung von Lebensstil und Umwelt. Man wohnt im selben Haushalt, atmet gemeinsam Land- oder Stadtluft, isst zusammen gesund oder ungesund. Wissenschaftler führen das auch auf die „assortative Paarung“ zurück, das heißt den Hang des Menschen, sich einen Partner zu suchen, der in Sachen Einkommen, Intelligenz und Gesundheitsbewusstsein mit einem selbst annähernd übereinstimmt.

Lebensstil und Einstellungen werden vererbt

Die Leidenschaft des Urgroßvaters für Sport, die Abneigung der Großmutter gegenüber Zigaretten, Eltern, die vorleben, wie wichtig Bildung ist und diese auch ihren Nachkommen ermöglichen: Am Ende sind es also wohl eher diese Faktoren, die von Generation zu Generation „weitervererbt“ werden und dafür sorgen, dass eine Lebenserwartung von 80, 90 oder gar 100 Jahren in der Familie liegt.