Der große Wissendurst der Rentner
Volkshochschulkurs, Gasthörerschaft oder Vollzeitstudium: Viele Senioren betrachten den Ruhestand als Bildungsphase und lebenslanges Lernen als persönlichen Gewinn.
Die Hände in den Schoß legen und den Begriff Ruhestand wortwörtlich nehmen? Für Jürgen Geuther ein Unding: „Das wäre ungefähr das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann“, sagt der 72-jährige Münchner energisch. Als er vor sieben Jahren in Rente ging, begann er daher nicht, Rosen zu züchten oder die viele freie Zeit in Kaffeefahrtbussen zu verbringen. Er machte sich vielmehr schnurstracks auf zum Immatrikulationsamt der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) und schrieb sich als Vollzeitstudent im Fach Neuere und Neueste Geschichte ein. Hörsaal und Bibliothek, Seminare und Referate, Zwischenprüfung und die 130-seitige Abschlussarbeit füllten von da an seinen Alltag aus. Nach vier Jahren, mit 69, hielt er sein Zeugnis in der Hand. Note: gut.
„Ich bin gesund, voller Schaffenskraft und Ehrgeiz, und wollte noch mal mit einer anspruchsvollen Aufgabe gefordert werden“, sagt Geuther, der früher als Chefingenieur in der Luft- und Raumfahrtindustrie tätig war. Der historische Aspekt seines Berufes faszinierte ihn dabei ein Leben lang. Allein die Zeit fehlte, einmal richtig tief in die Materie der Luftfahrtgeschichte einzutauchen. Warum er sich das Ganze im hohen Alter noch mal antut, das viele Lernen und die nervenaufreibenden Prüfungssituationen, konnten seine im Durchschnitt gut 40 Jahre jüngeren Kommilitonen am Anfang nicht wirklich verstehen. Doch gerade dies halte ihn jung, sagt Geuther.
„Nur Kreuzworträtsel zu lösen, um geistig fit zu bleiben, ist zu wenig“
Vollzeitstudierende wie er sind an der LMU bisher eher Exoten – die Mehrheit der pro Semester rund 1750 Seniorenstudenten bilden Gasthörer zwischen 65 und 75, die besonders gerne Veranstaltungen in Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie besuchen. „Senioren folgen heute vor allem ihren Interessen, beschäftigen sich mit dem, wofür im Berufsleben kein Platz war“, beobachtet Bettina Lörcher, Studienberaterin für lebenslanges Lernen am Zentrum Seniorenstudium der LMU.
Bei der Generation davor sah das noch ganz anders aus: Sie sah im Studium noch die Chance, einen akademischen Abschluss nachzuholen. Denn in ihrer Jugend galt die Prämisse, schnell in einen Beruf einzusteigen und Geld zu verdienen. Die „grauen“ Studenten, die heute in die Hörsäle pilgern, wollen hingegen vor allem ihren Horizont erweitern, vielleicht einen Bereich ihres früher ausgeübten Berufs nun auch wissenschaftlich untersuchen. „Nur Kreuzworträtsel zu lösen, um geistig fit zu bleiben, ist unseren Teilnehmern zu wenig“, sagt Lörcher.
Die „neuen“, wissbegierigen Alten werden immer mehr. „Schon allein die sich verändernde Altersstruktur der Gesellschaft wird die Zahl der Seniorenstudenten an unserer Universität zukünftig erhöhen“, ist Studienberaterin Lörcher überzeugt. Dass diese Entwicklung schon in vollem Gange ist, zeigen bundesweite Statistiken. Während im Wintersemester 1994/95 der Anteil der über 60-Jährigen an allen Gasthörern an deutschen Hochschulen noch bei 24,1 Prozent lag, machte die Gruppe im Wintersemester 2014/15 bereits die Mehrheit aus: Von den 33.600 eingeschriebenen Gasthörern zählten 17.800, also 53 Prozent, zur „Generation 60plus“.
Kursbelegungen an Volkshochschulen haben sich verdoppelt
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch an den rund 900 Volkshochschulen (VHS) im Bundesgebiet. So hat sich die Zahl der Kursbelegungen der über 65-Jährigen zwischen 2003 und 2013 auf 667.233 fast verdoppelt. „Der demografische Wandel und die Zunahme der gesunden Lebensjahre bereiten die Grundlage für diese Entwicklung, die sich in Zukunft weiter stark fortsetzen wird“, sagt Jens Friebe vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung in Bonn. Die darunterliegenden Ursachen seien jedoch weit spezifischer. Eine große Aufgeschlossenheit gegenüber Lernangeboten verortet der Experte für Bildung im Alter vor allem bei Menschen, die nach der Bildungsreform der 1960er-Jahre geboren sind, die mit weit weniger negativ besetzten Schulerfahrungen aufwuchsen und in den kommenden Jahren nun nach und nach in Rente gehen.
Zudem beobachte er in letzter Zeit eine starke Nachfrage nach VHS-Kursen rund um die Themen Gesundheit und geistige Fitness. Gedächtnisschulungen, aber auch Veranstaltungen, die über die Prävention und Bewältigung von Krankheiten informieren. Wenn sich schon die Arztbesuche häufen, möchte man zumindest verstehen und selbstbestimmt mitreden können.
Jung und Alt lernen von- und miteinander
Gesundheit ist für Karola Bürkner als Studienthema heute nicht mehr ganz so interessant. Seit es die studierte Apothekerin und langjährige Pharmaziereferentin mit 68 zum ersten Mal als Gasthörerin an die Technische Universität Berlin zog, gilt ihre Leidenschaft der Stadtsoziologie und -entwicklung. Was die heute 72-Jährige damals aber auch suchte, war nicht bloße Selbstverwirklichung, sondern ein Ort, um mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft in Kontakt zu kommen. Dass sie in den Vorlesungen auch neben Erstsemestern sitzt, sieht Bürkner als Gewinn für beide Seiten: „Wir lernen hier altersübergreifend von- und miteinander. Die Jungen haben mir gezeigt, wie man die Unterrichtsmaterialien downloadet, dafür schaue ich als ‚Zeitzeugin‘ mal über das ein oder andere Referat.“
Auch Bildungsexperte Friebe sieht darin einen unschätzbaren Wert des lebenslangen Lernens: „Bildung im Alter hat eine wichtige gesellschaftliche Funktion, da sie zum Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen beiträgt.“ Heute weiß Karola Bürkner sogar, wie man eine Webseite baut. Gelernt hat sie dies in einem speziellen Gasthörerstudium, das unter anderem fit für nachberufliche Aufgaben macht und damit besonders der wachsenden Bedeutung des Ehrenamts Rechnung trägt. An Online-Auftritten für eine Ausstellung und ein Stadttheater hat sie so mitgearbeitet. „Ich möchte gesellschaftlich aktiv bleiben, etwas bewegen“, sagt Bürkner.
Süchtig nach Bildung
Jürgen Geuther wollte nach seinem Abschluss sogar promovieren, hatte schon Thema und Doktorvater. Sich aber drei Jahre nur einem Thema widmen? Nein, das war dann doch nichts für ihn. „Es gibt so viele Sachen, über die ich mehr erfahren möchte“, sagt Geuther. „Ich bin fast ein bisschen süchtig nach Bildung, und werde das wohl machen, solange ich mich bewegen kann. Ich komme von der Universität einfach nicht mehr los.“