China – mit Highspeed zur Rentnerrepublik
Durch die Ein-Kind-Politik altert das Reich der Mitte heute schnell wie kein anderes Land. Der Staat reagiert – mit kuriosen Gesetzen und einem Appell an die Moral.
Am 1. Juli 2013 wird im Gericht der ostchinesischen Stadt Wuxi ein mehr als ungewöhnlicher Fall verhandelt. Die Klägerin: Frau Chu, 77 Jahre. Auf der Anklagebank: ihre Tochter. Grund für die Klage: Fast ein Jahr habe Frau Chu keinen Besuch mehr von ihr bekommen. Der Richter folgt dem Unmut der Seniorin und ordnet an, dass Tochter und Schwiegersohn von nun an alle zwei Monate bei ihr auf der Matte zu stehen haben. Und auch mindestens zwei nationale Feiertage im Jahr mit ihr feiern müssen. Falls nicht, drohen Geldstrafen oder sogar Gefängnis.
Respekt per Dekret
Grundlage des Urteils ist das „Gesetz zur Achtung der älteren Generation“, dass wenige Stunden zuvor in Kraft getreten war. Es verpflichtet Kinder, ihre Eltern finanziell zu unterstützen und „oft“ Kontakt mit ihnen zu pflegen, sobald diese das 60. Lebensjahr erreicht haben. Wer sich nicht daran hält, muss nicht nur eine Klage seiner Eltern fürchten: Ab 2020, wenn China landesweit sein Sozialkreditsystem ausrollen will, soll es zudem Abzüge für solches Verhalten geben. Schon heute experimentiert die Führung in Peking mit diesem System, in einigen Provinzen ist es bereits eingeführt. Fehlverhalten führt demnach unter anderem dazu, dass Sozialleistungen für Punktesünder eingeschränkt oder der Zugang zu Privatschulen verwehrt werden kann.
Eine weitere Neuregelung: Seit 2014 dürfen Studienanwärter der renommierten Peking-Universität die gefürchtete Aufnahmeprüfung umgehen. Vorausgesetzt sie können nachweisen, dass sie ihre Eltern in hohem Maße respektieren und sich um sie kümmern.
Die Vorbilder sind teils 700 Jahre alt
Was in europäischen Ohren kurios klingt, ist in China Teil einer staatlichen Strategie mit dem Ziel, den aus den Fugen geratenen Generationsvertrag wieder zu kitten.
„Gehorsam gegenüber den Eltern galt lange als verbindliche und zentrale Tugend“, sagt Angelika Messner, Sinologin und Leiterin des Chinazentrums an der Universität Kiel. Noch heute wächst jeder Chinese mit den „24 Beispielen der kindlichen Pietät“ auf, einer Sammlung von Vorbildgeschichten aus der Yuan-Dynastie vor 700 Jahren. Darin liest man vom kleinen Wu Meng, der nachts mit nacktem Oberkörper schläft, damit die Mücken ihn und nicht seine neben ihm schlafenden Eltern zerstechen. Oder vom Han-Kaiser Wendi, der seine Mutter pflegt und jede neue Medizin zuerst an sich selbst testet. Jahrhundertelang waren so die Ehrfurcht und Unterwürfigkeit der Jungen eine verlässliche Altersvorsorge.
Ein Kind soll für sechs Ältere sorgen
Doch die chinesische Gesellschaft wandelt sich. Vor allem, weil das Reich der Mitte wie im Zeitraffer altert. Nirgends sonst auf der Welt wächst der Anteil der Älteren so stark wie hier. Im Jahr 2050, so prophezeien Demografen, werden 35 Prozent der Bevölkerung über 60 sein. Das Durchschnittsalter könnte dann bei 49 Jahren liegen. 1970 waren es noch jugendliche 19. Das liegt zum einen daran, dass die Chinesen immer länger leben. Aktuell beträgt die Lebenserwartung rund 77 Jahre – 14 Jahre mehr als noch 1970. „Das sind radikale Zahlen“, sagt China-Expertin Messner. „Es ist kein demografischer Wandel, sondern eine Revolution. Hier geht gerade ein Prozess innerhalb von 30 Jahren vonstatten, den wir in Mitteleuropa in 100 Jahren durchgemacht haben.“
Dass die Gesellschaft so schnell altert, ist zum anderen und vor allem aber eine Folge der 1979 eingeführten und mittlerweile abgeschaffte Ein-Kind-Politik. Um Hungersnöte zu vermeiden und die Wirtschaft anzukurbeln, verordnete die Regierung den Menschen die Kleinfamilie. Das galt – mit einigen Ausnahmen – für 90 Prozent der Bevölkerung. Wer zuwiderhandelte, riskierte gekürzte Sozialleistungen oder sogar den Verlust des Jobs.
Die negativen Folgen der Geburtenkontrolle zeigen sich jetzt in voller Härte, denn die erste Elterngeneration dieser Politik geht gerade in Rente. Für viele Familien bedeutet das das „4-2-1-Modell“: Ein Einzelkind muss sich um zwei Eltern- und vier Großelternteile kümmern. Ein Zustand, oft völlig fern der Lebensrealität.
1000 Senioren auf 32 Pflegeheimbetten
Denn parallel dazu erlebt China die wohl größte Binnenwanderung seiner Geschichte. War das Land früher ein planwirtschaftlicher Agrarstaat, ist es heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Nie weit zu reisen, solange die Eltern noch da sind, und mit ihnen unter einem Dach zu wohnen – wie es der Lehre des Philosophen Konfuzius entspricht –ist für viele schlichtweg nicht mehr möglich. Die Metropolen boomen und mit ihnen das Arbeitsplatzangebot. Millionen von Wanderarbeitern zieht es vom Land in die Städte. In den Dörfern zurück bleiben die ergrauten Eltern und Großeltern.
Ein Sozialsystem, das einiges ausgleichen könnte, ist jedoch gerade erst im Entstehen. Nur 61 Prozent aller Chinesen sind rentenversichert. Auf dem Land gibt es Provinzen, in denen das nur auf ein einsames Prozent der Bevölkerung zutrifft. Zwar werden fleißig Pflegeheime gebaut, trotzdem sind die Wartelisten lang und statistisch 1000 Senioren müssten sich aktuell 32 Betten teilen. Ohne die Familie, das weiß der Staat, wird es auch in Zukunft nicht gehen.
Der Wandel als Chance
Und so wurden erst kürzlich die „24 Beispiele kindlicher Pietät“ neu aufgelegt. Millionenfach in Buchläden erhältlich und an Schulen verteilt. Sich den Oberkörper zerstechen zu lassen, braucht man darin nicht mehr. Anstelle dessen wird geraten, jährlich eine Geburtstagsfeier für Vater und Mutter auszurichten und ihnen zuzuhören, wenn sie von früher erzählen.
Für China-Kennerin Messner ist ein solcher Appell an die Moral natürlich keine Lösung. Dennoch ist der demografische Wandel für sie nicht nur ein Schreckgespenst. „Er birgt auch die Chance, aus vorgeschriebenen Rollen auszubrechen, und löst die gegenseitige Abhängigkeit von Jung und Alt zunehmend auf.“ So zeigen Studien, dass nicht unbedingt alle älteren Chinesen gern mit ihren Kindern zusammenleben und von ihnen versorgt werden wollen.
Der Wunsch, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen – nirgendwo zeigt sich das besser als beim Thema Gesundheit. Wie kaum ein anderes Volk beherrschen die Chinesen „Yangsheng“, die „Pflege des langen Lebens“. Aus eigenem Antrieb nutzen sie präventive Techniken wie gesunde Ernährung oder Qigong. Lange gesund zu leben, ist in China nach wie vor ein Ideal.