Berufswechsel ab 40: So gelingt die zweite Karriere
Ein Leben, ein Job – das ist längst nicht mehr die Regel. Und selbst ab der Lebensmitte sind noch krasse Branchenwechsel möglich. Der Fachkräftemangel erhöht die Berufschancen.
Nach dem Vorstellungsgespräch und einem Tag Probearbeit war für Sandro Dühnforth klar, dass Klarissa Qualmann genau die Richtige ist. Aufgeschlossen, ehrgeizig und versessen darauf, den Umgang mit Nadel und Faden zu lernen. Zeugnisse interessierten den Hamburger Herrenschneider kaum. Genauso wenig wie ihr Geburtsdatum. „Er wollte nur wissen, ob ich mir zu schade dafür sei, auch mal die Werkstatt zu putzen.“ Qualmann verneinte – und bekam die Lehrstelle. Sie, damals fast 50 Jahre alt, war wieder Azubi.
Zahl der Ü40-Lehrlinge hat sich verdreifacht
Ein zweiter Beruf statt erste Gedanken an die Rente? Das ist kein völliges Randphänomen mehr. So nehmen heute rund 54 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 50 und 64 an Weiterbildungen teil, zu denen laut Statistik auch Umschulungen gehören. Verglichen mit 1991 ein gewaltiger Anstieg. Damals lag die Quote bei gerade einmal 23 Prozent.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der klassischen dreijährigen Ausbildung. 2007 gab es lediglich 564 Deutsche, die mit über 40 in ihr erstes Lehrjahr gestartet sind. Bis 2020 hatte sich ihre Zahl auf 1.863 erhöht und somit mehr als verdreifacht. Gegenüber den Jungen ist ihr Anteil freilich gering, aber immerhin sind unter 10.000 Lehrlingen mittlerweile auch 19, die beweisen: Für einen beruflichen Neustart gibt es keine Altersgrenze.
Die Gründe, warum manche den alten Weg nicht mehr gehen können oder wollen, sind vielfältig. Mal spielt die Gesundheit nicht mehr mit, mal verspricht ein anderer Beruf ein besseres Gehalt, mal wird der bisherige Job als nicht mehr erfüllend empfunden. Bei Klarissa Qualmann, die über 20 Jahre bei einem Bankenverband beschäftigt und dort für den Vertrieb von Seminaren zuständig war, kam an einem Sonntagabend einiges davon zusammen: „Ich habe zu meinem Mann gesagt, dass ich nicht mehr kann.“
Lernen im Alter: Mehr Vor- als Nachteile
Stattdessen wagte sie die komplette Kehrtwende und wechselte ins Handwerk. Die Frage, ob es dafür vielleicht zu spät sein könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Gut so, findet Laura Naegele. Die Soziologin arbeitet am Bundesinstitut für Berufsbildung und befasst sich dort vor allem mit älteren Beschäftigten – einer Gruppe, über die es viele Vorurteile gibt. „Falsch ist zum Beispiel die Annahme, dass Ältere per se schlechter lernfähig sind und das menschliche Gehirn mit den Jahren zwangläufig länger braucht, um neue Dinge zu verstehen und abzuspeichern.“ Richtig sei vielmehr: Ältere lernen anders und vermeintliche Defizite lassen sich kompensieren.
Klarissa Qualmann kann das bestätigen. Stoffberechnungen, Kostümgeschichte, die Fähigkeit, ein Sakko passgenau zu nähen oder ein Knopfloch in nur zehn Minuten per Hand zu stechen: Das Lernpensum war hoch. „Ich habe schon gemerkt, dass meine Mitschüler – allesamt Jahrzehnte jünger – schneller waren. Trotzdem konnte ich mithalten.“ Weil sie bedachter an Aufgaben heranging und ihr daher weniger Fehler unterliefen. Weil sie Wissen aus ihrem früheren Job mitbrachte. Und weil sie durch ihre Lebenserfahrung viel Selbstbewusstsein besaß. „Habe ich im Unterricht etwas nicht begriffen, habe ich den Mund aufgemacht. Die Jungen waren da weitaus schüchterner.“
Junges Personal noch immer bevorzugt
Auch die Forschung deutet darauf hin, dass Alter und Leistung eher wenig miteinander zu tun haben. Einiges wird, je älter wir werden, sogar besser. Vor allem die kristalline Intelligenz, also das Faktenwissen, der Wortschatz, das Verständnis für komplexe Sachverhalte und die soziale Kompetenz. Zudem funktioniert das Gehirn ein Leben lang wie ein Muskel: Gibt man ihm etwas zu tun, baut es langsamer oder gar nicht ab. Laut einer US-Studie verjüngt tägliches Lernen sogar. Innerhalb von sechs Monaten kann ein 70-Jähriger so durchaus wieder die Hirnleistung eines 30-Jährigen erreichen.
Trotzdem setzt man in der Arbeitswelt noch immer vorrangig auf Jugendlichkeit. Bei Weiterbildungen werden Ältere häufig übergangen; nur rund jedes siebente deutsche Unternehmen sucht ausdrücklich auch älteres Personal. „Wird eine Lehrstelle ausgeschrieben, fühlen sich Menschen jenseits des ‚klassischen‘ Ausbildungsalter oft gar nicht angesprochen“, sagt Soziologin Naegele. Beispiel: Fotos in Stellenanzeigen. Gemäß einer Auswertung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sind darauf in nur 3,1 Prozent aller Fälle speziell Ältere zu sehen. „Formulierungen wie ‚Junges und dynamisches Team sucht…‘ gibt es hingegen zuhauf. Eine Mittvierzigerin wird das so verstehen: Ich bin zu alt und nicht willkommen.“
Mit flexibleren Lebensläufen gegen den Fachkräftemangel
Daran müsse sich schleunigst etwas ändern, findet die Expertin. Auch wegen der Arbeitsmarktlage. Ende 2022 waren etwa 69.000 Lehrstellen unbesetzt; in vielen Branchen fehlen unzählige Fachkräfte. Ohne Menschen, die bereit sind und ermutigt werden, zum Pfleger, Erzieher, Lokführer oder Monteur umzuschulen, wird es nicht gehen. Grundlage sind jedoch auf Ältere zugeschnittene Lehrmethoden, so Naegele. „Sie lernen zum Beispiel besser, wenn es statt Frontalunterricht mehr Praxis gibt. Dann, das zeigt die Forschung, können Jung und Alt gleich gute Ergebnisse erzielen.“
Klarissa Qualmann ist dafür der beste Beweis. Ihren Abschluss als Maßschneiderin hat die mittlerweile 57-Jährige längst in der Tasche – genauso wie den Meister-Titel. Beides mit guten bis sehr guten Noten. Heute besitzt sie unter anderem eine eigene Werkstatt und unterrichtet selbst Umschüler im Schneiderhandwerk. Das Thema Bildung aber noch immer nicht vom Tisch. Auf ein Studium hätte die Hamburgerin Lust. „In Rente gehen, ist für mich unvorstellbar. Viel lieber möchte ich noch mit 100 an der Nähmaschine sitzen.“