Ratschläge der Methusalems

20.09.2019

Die Weis­heit der 100-Jäh­ri­gen

Was ist Glück? Was der Sinn des Lebens? Hochbetagte geben auf solch existenzielle Fragen bewegende Antworten. Und verraten, wie sie so alt geworden sind.

© Rei Gesing

Hildegard Kinschert (links) und Anna Bucher sind zwei der 35 „Methusalems“, die der Autor Rei Gesing zur Quintessenz ihres Lebens befragt hat.

Diese Fragen hat sich wohl jeder schon mal gestellt: Was ist der Sinn des Lebens? Was bedeutet Glück? Der Autor Rei Gesing ist diesen Kernfragen der menschlichen Existenz nachgegangen und hat sich Antworten von denen geholt, die auf ein sehr langes Leben zurückblicken können: Menschen, die fast 100 Jahre oder älter sind. Insgesamt 36 Interviews mit Hochbetagten hat er geführt und die Ergebnisse im Buch „Die Weisheit der 100-Jährigen“ zusammengetragen. In Auszügen präsentieren wir vier Gespräche.

Anna Bucher: Die Träumerin

© Rei Gesing

Anna Bucher wurde 1910 in Eisenfurt geboren.

Warum glauben Sie, dass Sie so alt geworden sind?
Manchmal denke ich, das kann nicht sein, dass ich 107 Jahre alt bin, und zweifle, ob es die Wirklichkeit ist, so alt zu sein. Dann hole ich meinen Ausweis und da steht es dann: Geboren am 13. Februar 1910! Ich kann es selbst nicht glauben; ich wusste gar nicht, dass das möglich ist, so alt zu werden. Ich staune selbst darüber; ja und es ist möglich, dass ich deshalb so alt geworden bin: weil ich staunen kann und mich auch sonst immer begeistern konnte für vieles!?

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wichtigste im Leben?
Aktiv sein, in Bewegung sein, viel arbeiten, etwas schaffen, etwas verändern! Man ist doch nicht lebendig, um rumzusitzen und Däumchen zu drehen. Das Leben ist nur schön, wenn darin auch etwas passiert. Und das müssen auch gar nicht immer so große Sachen sein; die Kleinigkeiten können auch etwas bewirken und sehr schön sein. Wenn ich besser hören könnte, würde ich noch viel öfter mal ein Schwätzchen mit den anderen machen. Aber ein Lächeln schenken ist ja auch schon etwas!? Und das kann ich noch gut und das mache ich auch oft.

Wie haben Sie in Ihrem Leben Stress, Ärger, Ängste, Konflikte und Krisen bewältigt?
Das gab es kaum in meinem Leben. Ich konnte immer die Ruhe bewahren, egal was war, und deshalb habe ich wohl auch keine Erinnerung an Zeiten mit Ärger oder Streit.

Was bedeutet Glück für Sie?
Wenn man die alltäglichen Bedürfnisse stillen kann, ist das schon sehr viel! Das wisst ihr Jungen gar nicht mehr zu schätzen. Wie viele Menschen mögen wohl davon träumen, dass es ihnen nur einen Tag im Leben so gut ginge wie uns hier!?

 

Hildegard Kinschert: Die Naturverbundene

© Rei Gesing

Hildegard Kinschert wurde 1915 in Berlin geboren.

Warum glauben Sie, dass Sie so alt geworden sind?
Das sind bei mir ganz eindeutig die Gene! Mein Opa wurde dazumal schon 98 Jahre alt. Meine Mutter 93 einhalb. Mein Vater fiel im Krieg, doch auch in seiner Familie sind viele sehr alt geworden. Und meine Schwester wurde auch 102 Jahre alt.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wichtigste im Leben?
Zu den wichtigsten Dingen zählt natürlich eine stabile Gesundheit und ein robustes Immunsystem zu haben. Ein bisschen Geld ist auch nicht schlecht, damit man nicht darben muss. Aber noch viel wichtiger ist, dass man, wann immer man möchte, in der Natur sein kann. Das ist wichtig sowohl für den Körper als auch für die Seele. Ich war immer ganz viel im Wald und an der frischen Luft. Es gibt nichts Besseres, als in der Natur zu sein. Und das war ich immer und bin es heute noch. Obwohl oder gerade weil ich ein Großstadtkind bin.

Wie haben Sie in Ihrem Leben Stress, Ärger, Ängste, Konflikte und Krisen bewältigt?
Es gehört ja dazu im Leben. Das darf nur nicht zu viel Raum einnehmen. Ich habe immer versucht, schnell wieder auf andere Gedanken zu kommen, wenn es mal Ärger gab. Zum Beispiel, indem ich in meinen geliebten Wald ging. An der frischen Luft ist alles schnell vergessen.

Was raten und wünschen Sie den heute jungen Menschen?
Ich rate alles zu meiden, was abhängig macht. Zigaretten, Alkohol und auch dieses Gift, die Drogen. Am besten alles weglassen. Und stattdessen gesundheitsbewusst und naturverbunden leben. Nur leider hören die Jungen da sowieso nicht drauf und machen doch, was sie wollen. Aber das ist wohl auch normal und gut so. Wir waren doch auch mal jung.

Was ist Ihrer Ansicht nach der Sinn des Lebens?
Dass man alles, was man erlebt, auch bewusst erlebt und immer ganz bei dem ist, was man gerade tut. Wenn man immer klar und wach und aufmerksam ist, macht das Leben viel mehr Spaß. Man erlebt alles viel stärker, viel intensiver, viel echter. Jetzt im Alter erinnert man sich an all die vielen bewussten und intensiven Erfahrungen und trägt einen Schatz in sich, den Schatz der Erinnerungen.

Was bedeutet Glück für Sie?
Wenn ab und zu mal ein Wunsch in Erfüllung geht, dessen Erfüllung man gar nicht wirklich erwartet hat. Es ist dann so etwas wie ein Bonus, eine Zugabe. So wie mein Bonus an Jahren, den ich jetzt noch bekomme. 102 Jahre alt zu sein, dabei gesund, und alles zu haben, was man braucht. Ja, das ist schon ein großes Glück. Und meine liebe Freundin, das nette Personal hier; ich bin sehr froh und dankbar.

 

Elfriede Zakrzynski: Die Couragierte

© Rei Gesing

Elfriede Zakrynski wurde 1917 in Berlin geboren.

Warum, glaubst du, bist du so alt geworden?
Ich habe mir selbst oft die Frage gestellt. Ganz oft schon. Ich wusste gar nicht, dass man wirklich so alt werden kann. Also 100 Jahre, ein Monat, zwei Wochen und vier Tage. Aber Spaß beiseite; ich denke wirklich, dass es daran liegt, dass es in meinem Leben eine Zeit gab, und ich spreche über einen Zeitraum von immerhin mehreren Jahren, in der ich viel gehungert habe! Richtig gehungert! Aber ich bin überzeugt davon, dass mich das stark gemacht hat und robust.

Was ist deiner Auffassung nach das Wichtigste im Leben?
Man sollte, nein, man muss besonnen und überlegt handeln. Bleib besonnen, Junge! Oder werde es! Immer erst einmal tief Luft holen, dann kurz überlegen, aber auch nicht zu lange! Und dann mit Vollgas auf das Ziel zu! Sich auch mal etwas trauen, mutig sein.

Wie hast du in deinem Leben Stress, Ärger, Ängste, Konflikte und Krisen bewältigt?
Ich hatte nie Arger und Stress; oder ganz, ganz wenig, besser gesagt. Ich habe immer versucht, meinen gesunden Menschenverstand zu benutzen und klug und besonnen zu handeln. Dann trifft man auch die richtigen Entscheidungen und hat hinterher keinen Ärger und keine großen Konflikte. Und manchmal sagt man auch einmal ein falsches Wort oder einen falschen Satz, weil man wütend ist oder verletzt oder einfach, weil man recht haben will. Das kommt ja vor, wir sind ja alle nur Menschen. Wichtig ist, dass man hinterher den Kopf unter den Arm nehmen kann und um Entschuldigung bitten kann. Überall, auf der Arbeit oder in der Partnerschaft, ganz egal, wenn du Mist gebaut hast oder ungerecht warst, dann musst du auch die Courage haben und dich entschuldigen können!

Was rätst und wünschst du den heute jungen Menschen?
Esst weniger Fleisch! Oder gar keins, wenn ihr ohne leben könnt. Oder versucht wenigstens den Fleischverzehr ganz deutlich zu reduzieren. Die Massentierhaltung muss aufhören. Das Leiden von den Schweinen und Hühnern, das muss aufhören! Diese armen Geschöpfe, das macht mich so traurig. Das macht mich so hilflos. Wieso tut ihr da nicht mehr; das geht so nicht. Ich darf daran gar nicht denken (Elfi weint). Außerdem macht Fleisch das Blut dick und gefährdet die Gesundheit.

Was ist deiner Ansicht nach der Sinn des Lebens?
Klug und vernünftig handeln, um mehr Ruhe und Nächstenliebe in die Welt zu bringen. Wir müssen mehr Liebe in diese Welt, unter die Leute, in die Gesellschaft bringen. Das ist so einfach, so simpel und das weiß doch jeder, der das Herz am rechten Fleck hat. Der Sinn des Lebens ist die Liebe. Was denn sonst?

Was bedeutet Glück für dich?
Etwas zu erhalten, womit man nicht gerechnet hat. Das ist Glück! Etwas lernen zu können. Vielleicht sogar im Alter noch etwas ganz Neues zu lernen. Vielleicht etwas, das man in der Jugend schon gern gelernt hätte? Eine Erkenntnis gewinnen. Gemeinschaft erleben können mit anderen Menschen. Unverhofft Besuch bekommen.

 

Wilhelm Dodenhoff: Der Weitgereiste

© Rei Gesing

Wilhelm Dodenhoff wurde 1920 in Sottrum geboren.

Warum, glauben Sie, sind Sie so alt geworden?
Ich habe alle mir gestellten Aufgaben immer mit großer Freude erfüllt. Ich bin immer neugierig geblieben. Sehr neugierig — ich wollte immer, und will auch heute noch, wissen, was um mich herum und in der Welt passiert. Ich will teilhaben am Leben und diese Gesellschaft mitgestalten. Gearbeitet habe ich noch bis zum 75. Lebensjahr. Danach war ich dann noch bis zu meinem 80. Geburtstag als Gutachter tätig. Ich hatte immer große Freude an meiner Arbeit. Meine berufliche Tätigkeit war sehr erfüllend. Ich lebe einfach gerne; hatte Freude an der Arbeit wie am Leben im Allgemeinen. Leidenschaftlich gern trieb ich Sport und bin viel gereist. Das ist wohl der Grund dafür, dass ich in Würde so alt geworden bin, und dafür bin ich dankbar.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wichtigste im Leben?
Die Kinder auf den Weg bringen und fördern, aber auch andere Menschen. Sie, die Kinder wie auch andere Menschen, für die man Verantwortung trägt, dürfen wir aber nie zu etwas zwingen. Denn es ist wichtig, dass sie überzeugt sind von dem, was sie tun. Dann können sie viel leisten und haben dabei noch Freude. Was kann noch sinnvoller sein?

Wie haben Sie in Ihrem Leben Stress, Ärger, Ängste, Konflikte und Krisen bewältigt?
Es gab für mich in solchen Zeiten und Situationen eine Vorgehensweise, mit welcher ich immer sehr gut zurechtgekommen bin. Ich habe den Ärger immer von seiner Wurzel her betrachtet. Ich habe versucht, ihm die Wurzel wegzunehmen. Ihm die Wurzel quasi zu ziehen, zu entziehen! Ich habe versucht, den Grund für den Arger zu verändern und so aktiv einzuwirken auf eine Situation oder einen Umstand. Und wenn das in Ausnahmefällen einmal nicht möglich war, das gibt es ja natürlich auch, habe ich mir gesagt, ich muss das überwinden, mit Gelassenheit nehmen, wie es ist. Meistens ist mir das gelungen!

Was raten und wünschen Sie den heute jungen Menschen?
Ich rate dazu, dass man bei allem, was man tut, woran man arbeitet oder womit man sich beschäftigt, beziehungsweise beschäftigen muss, die Vernunft, den gesunden Menschenverstand einsetzen sollte. Besonders, wenn es um die Berufswahl geht. Unbedingt, wenn möglich, einen Beruf wählen, der Freude macht. Das ist so wichtig und wir leben ja Gott sei Dank heute in einer Zeit, in der das für die Allermeisten möglich ist. Man sollte sich nie zu etwas zwingen müssen, weder zu einer bestimmten Arbeit noch zu einer bestimmten Schule oder auch zum Umgang mit bestimmten Menschen oder bestimmten Gruppen von Menschen. Sei es im beruflichen wie im privaten Bereich. Ohne Freude, ohne echtes Interesse geht es auf Dauer nicht!

Was ist Ihrer Ansicht nach der Sinn des Lebens?
Sokrates hat dazu schon gesagt: „Mit Freude die Aufgaben erfüllen, die einem das Leben stellt.“ Und genau so ist das! Das ist Sinn, zumindest nach meinem Verständnis. Für mich ist das sehr sinnvoll und erstrebenswert, mit Freude seine Aufgaben zu erfüllen, Herausforderungen zu meistern. Was kann es Besseres geben?

Was bedeutet Glück für Sie?
Für mich bedeutet Glück zu lernen, zufrieden sein zu können. Sich eine Existenz aufbauen, ein Leben gestalten, in dem man zufrieden und ausgeglichen sein kann. Glücklich eben. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wir haben es selbst in der Hand. Zumindest die, die gesund sind und zivilisiert und in Frieden leben. Ich hatte Glück. Ich habe Glück.

Haben Sie noch Träume und Wünsche?
Es gibt ja das Buch „100 Places to See Before You Die.“ Kennen Sie das? Ich war 1977 in China, kurz nach dem Tod von Mao; dorthin möchte ich jetzt gerne noch einmal reisen, um zu sehen, was sich verändert hat und wie es dort heute ausschaut. Viele andere Ziele schaffe ich wohl nicht mehr; aber nochmal nach Australien, Süd- oder Nordamerika, das wäre auch sehr interessant. Es gäbe noch so viel zu sehen und zu lernen.

„Die Weisheit der 100-Jährigen“

© Rei Gesing

Während seiner Arbeit als Unternehmensberater streifte Rei Gesing in Gesprächen mit Mandanten oft grundsätzliche Fragen des Lebens: Wofür mache ich das eigentlich? Was ist mir wichtig? „Und so fand ich es nur logisch, einmal Menschen zu befragen, die ein Vielfaches mehr an Erfahrung gesammelt haben als ihre Mitmenschen und die völlig anders auf das Leben blicken“, erzählt der Autor. Die bewegenden Antworten seiner – inzwischen zum Teil verstorbenen – Gesprächspartner hat er in einem Buch zusammengetragen. Es ist im Solibro Verlag erschienen und kostet 30 Euro.