„Erotik hört nie auf“
Sexualität im Alter wird nach wie vor tabuisiert. Ein Unding. Denn die Lust bleibt, auch wenn sich Intimität und Zärtlichkeit jenseits der 60 anders ausdrücken.
Wenn sich ältere Prominente in der Öffentlichkeit über ihr Liebesleben äußern, ist das Erstaunen oft groß. Etwa wenn Iris Berben meint, „Erotik hört nie auf“. Und Jane Fonda erst mit 80 „den Laden da unten zugemacht“ hat. Auch der 2008 erschienene Film „Wolke 9“ schlug seinerzeit hohe Wellen. Sexszenen mit Senioren? Für die einen eine ästhetische Zumutung, für die anderen ein längst überfälliger Tabubruch.
Bis heute ist Erotik in Kino und Fernsehen größtenteils den jungen Körpern vorbehalten. Verliebt sich doch ein älteres Pärchen, wird Händchen gehalten. Oder – das höchste der Gefühle – ein bisschen verstohlen geküsst. Dem wahren Leben entspricht das aber nicht. „Wir sollten uns von dem Mythos verabschieden, dass ältere Menschen asexuell sind und kein glückliches und erfülltes Sexualleben führen können“, sagt Karolina Kolodziejczak.
Ein Drittel der Älteren sexuell aktiver als der Durchschnitt der 20- bis 30-Jährigen
Dass sich die Libido mit der ersten Rentenzahlung nicht automatisch abschaltet, beweist die Psychologin von der Humboldt-Universität Berlin in einer Studie. Das zentrale Ergebnis: Ja, Ältere haben im Durchschnitt weniger Sex als Jüngere. Und ja, sie denken auch weniger häufig daran. Geht es jedoch um den Wunsch nach Intimität, nach Zärtlichkeit und Geborgenheit gibt es zwischen Jung und Alt kaum Unterschiede.
Und viele Ältere haben sogar ein regeres Sexleben als junge Erwachsene. So gab fast ein Drittel der 60- bis 80-Jährigen an, häufiger sexuell aktiv zu sein und häufiger sexuelle Gedanken zu haben als der Durchschnitt der 20- und 30-Jährigen. Erkenntnisse anderer Studien gehen in eine ähnliche Richtung. Laut Forschern der Universität Leipzig sind mehr als drei Viertel der 61- bis 70-Jährigen, die in einer Partnerschaft leben, auch sexuell aktiv. Verglichen mit jungen Singles heißt das: Bei älteren Paaren geht weitaus mehr im Schlafzimmer.
Liebesleben verändert sich – schon aus biologischen Gründen
Dennoch ist die Sexualität im Alter eine andere als mit 20 oder 30, sagt Paar- und Sexualtherapeutin Christina Graefe. Wenn ältere Paare in ihre Wiesbadener Praxis kommen, dann meist, weil das Liebesleben nicht mehr so „funktioniert“ wie früher. Männer kämpfen vor allem mit der nachlassenden Erektionsfähigkeit; Frauen leiden zunehmend an Scheidentrockenheit, was zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr führen kann. Helfen können hier Gleitgels, Penisringe und – nach ärztlicher Absprache – Potenzmittel. Viel wichtiger, so Graefe, sei jedoch ein Umdenken. „In praktisch jedem Bereich des Lebens verlangt es uns permanent nach Weiterentwicklung. Nur in der Sexualität soll immer alles so bleiben wie am Anfang – leistungsstark und jugendlich.“
Die Therapeutin empfiehlt daher, nicht krampfhaft am spontanen Quickie in der Umkleidekabine festzuhalten. „Alles braucht etwas länger, um in die Gänge zu kommen. Aber guter Sex muss nicht wild, akrobatisch und auf jeden Fall von einem choralen Orgasmus gekrönt sein. Gerade im Rentenalter hat man viel mehr Zeit für intime Begegnungen, als das früher zwischen Kindern, Karriere und unbezahltem Hauskredit möglich war. Die reife Sexualität ist eine einzigartige Chance, die vielen sexuellen ‚Nebendarsteller‘ zu entdecken.“
Chance für sinnlichere Sexualität
Das kann ein langes Vorspiel sein. Oder aber eine leidenschaftliche Knutscherei mit einer ausgiebigen Massage im Anschluss. Nicht selten begegnet Graefe älteren Paaren, die davon berichten, dass sie ihre Sexualität heute viel intensiver und sinnlicher erleben. Weil sie sich dem erotischen „Fitnesswahn“ entziehen, offen über Ängste und Wünsche sprechen und im Reinen sind mit ihrem Körper, der jetzt eben nicht mehr ganz so knackig-jung ist.
Und Sex in jeder Form wirkt wie eine Verjüngungskur. Auch bei Stellungen, die weniger anstrengend sind, werden Muskeln aufgebaut und Kreislauf sowie Stoffwechsel aktiviert. Obendrein arbeiten die Hormondrüsen auf Hochtouren. Ein wahrer Jungbrunnen für ältere Menschen, bei denen Sexualhormone sonst nur noch spärlich ausgeschüttet werden.
Sexuelle Revolution der 60er und 70er wirkt nach
Schaut man auf die Geschlechter, gibt es jedoch Unterschiede. Eine Studie der Michigan State University zeigte, dass ältere Männer etwas vorsichtig sein sollten: Ein zu lustvolles Liebesleben macht es für sie ab Ende 50 wahrscheinlicher, eine Herzattacke oder einen Schlaganfall zu erleiden. Bei Frauen, die häufig befriedigenden Sex haben, sinkt das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen dagegen erheblich.
Nur an Gelegenheiten mangelt es ihnen oft. Denn mehr als für Männer ist Sex für Frauen an eine feste Beziehung geknüpft. Sind sie im Alter Single – weil Männer unter anderem gut drei Jahre früher sterben –, werden auch intime Momente seltener. So hat fast jede dritte verpartnerte Frau über 70 regelmäßig Sex. Bei den Alleinstehenden sind es nur noch fünf Prozent. Psychologin Kolodziejczak vermutet dennoch, dass der Anteil der Menschen, für die Sex auch im Alter ganz selbstverständlich dazugehört, in Zukunft steigen könnte. Denn die „sexuelle Revolution“ der 60er und 70er-Jahre habe nachfolgenden Generationen den Weg für einen offeneren Blick auf Intimität geebnet. Wer also zeitlebens sexuell aktiv war, wird sich das auch vom Alter nicht nehmen lassen. Die wachsende Zahl Älterer beim Online-Dating oder vor dem Traualtar bestätigt das schon heute.
Reife Sexualität braucht mehr Öffentlichkeit
Für Sexualtherapeutin Christina Graefe ist es daher höchste Zeit, Sex im Alter aus der Tabuzone zu holen. Mehr positive Bilder von reifer Sexualität in der Öffentlichkeit seien dafür nötig. Zum Beispiel mehr Filme wie „Wolke 9“ (Trailer). „Es bedarf allerdings dringend auch der Älteren selbst, die sich so langsam mal von ihren Sofas erheben müssen, um gegen die Stigmatisierung ihrer Sexualität zu protestieren. Ihr habt ein Recht auf einen ebenbürtigen Platz in der Gemeinschaft der sexuell Aktiven. Nehmt ihn euch!“