Bundestagswahl

11.09.2017

„Die junge Gene­ra­tion muss lau­ter wer­den“

Die Kräfteverhältnisse bei Wahlen verschieben sich. Die Älteren gewinnen an Einfluss. Für die Jugend heißt das: Sie muss mehr für ihre Belange kämpfen.

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Demonstrationen können für die Jugend künftig wichtiger  werden, wenn sie ihre Forderungen durchsetzen will. Denn ihr Einfluss bei Wahlen schwindet.

Die Einwohnermeldeämter in Deutschland erleben gerade einen Andrang, wie es ihn so noch nie gegeben hat. Die Briten kommen in Scharen und beantragen einen deutschen Pass. Die Zahl der Einbürgerungen britischer Staatsbürger hat sich allein 2016 fast verfünffacht – auf knapp 3000.

Die Neubürger wollen damit retten, was ihnen mit dem Brexit verloren zu gehen droht. Wollen sich nicht abfinden mit einer Entscheidung, die ihnen ihre älteren Landsleute eingebrockt haben. Denn während die jungen Briten mehrheitlich für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt haben, votierten ihre Eltern und Großeltern überwiegend für den Austritt.

Generation 60 plus erstmals größte Wählergruppe

Der Brexit zeigt exemplarisch, wie konfliktreich das Verhältnis zwischen Jung und Alt ist. Und er wirft  eine Frage auf, die auch für Deutschland relevant ist: Nämlich ob und wie die junge Generation an Entscheidungen beteiligt ist, die ihre Zukunft betreffen. Zwar sind landesweite Referenda hier nicht vorgesehen, so dass sich Meinungsunterschiede zwischen den Generationen nicht so deutlich zeigen. „Doch auch in Deutschland würde das demografische Gewicht der Älteren den Ausschlag geben, wenn es hart auf hart kommt“, sagt Harald Wilkoszewski vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Die steigende Lebenserwartung und die niedrigen Geburtenzahlen sorgen dafür, dass der Anteil der Senioren an der Bevölkerung stetig steigt. Damit gewinnen sie zugleich an politischem Einfluss: Zur Bundestagswahl im Herbst wird die Generation 60 plus erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die größte Wählergruppe sein – mit einem Anteil von 36,1 Prozent der Wahlberechtigten. Und der Trend setzt sich fort: Während heute rund 28 Prozent der Gesamtbevölkerung älter sind als 60 Jahre, werden es im Jahr 2050 bereits 38 Prozent sein. Damit steigt auch ihr Einfluss bei den Wahlen. Ist Deutschland damit auf dem Weg zu einer Gerontokratie – der Herrschaft der Alten?

Jugend beklagt Chancenungleichheit

Noch Anfang der 1990er-Jahre waren die unter 40-Jährigen die mit Abstand größte Wählergruppe. Heute bilden sie die kleinste.

Für Wolfgang Gründinger besteht daran kein Zweifel. „Die Demografie prägt die Demokratie“, sagt der Autor des Buches „Alte Säcke Politik“ und Vorstand der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRzG). Er sieht die Jugend schon heute in vielen Punkten benachteiligt. „Es gibt nicht nur einen ungleichen Zugang zu politischer Macht, sondern zu Lebenschancen im Allgemeinen.“ So sei die Schere zwischen Alt und Jung bei den Löhnen und dem Vermögen immer weiter auseinander gegangen.

Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln geben ihm recht: Demnach ist das verfügbare Einkommen der 65- bis 74-Jährigen in Westdeutschland seit Mitte der 1980er-Jahre um durchschnittlich 52 Prozent gestiegen. Die Löhne  von Menschen unter 45 Jahren legten dagegen nur um 21 bis 31 Prozent zu. Studienautorin Susanna Kochskämper hält die heutigen Rentner deshalb für die falsche Klientel, wenn es um Armutsprävention geht: „Das eigentliche Problem der Altersvorsorge liegt nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft.“

Zusätzliche Leistungen für heutige Rentner

Die Politik vermittelt jedoch den gegenteiligen Eindruck. Mit ihren teuersten Vorhaben hat die Große Koalition in der aktuellen Legislaturperiode die Leistungen für die heutige Rentnergeneration weiter ausgedehnt: Allein die Kosten für Mütterrente und Rente mit 63 belaufen sich bis 2030 auf 160 Milliarden Euro. Kritiker sprechen gar von 230 Milliarden Euro. Dazu kommt noch die Ost-Westangleichung der Rente. „Von den drei Maßnahmen profitieren die Jüngeren überhaupt nicht“, beklagt Gründinger.

Weitere Belastungen sind absehbar. Zu den größten ungelösten Problemen gehört die Finanzierung des Ruhestands. Ohne weitere Reformen würde das Rentenniveau bis 2045 von heute 47,8 auf 41,6 Prozent sinken. Auch die Gesundheits- und Pflegeausgaben werden mit der Alterung der Gesellschaft weiter ansteigen. Und die öffentlichen Haushalte ächzen unter den steigenden Pensionslasten, die ihren Handlungsfreiraum zunehmend einengen und die Neuverschuldung in die Höhe treiben können.

Wertvorstellungen trennen Jung und Alt

Wilkoszewski hält daher eine Debatte, wie die Interessen der Altersgruppen künftig fair austariert werden, für überfällig. „Die Diskussion, was Generationengerechtigkeit bedeuten kann und muss, wird bisher nur relativ oberflächlich geführt“, urteilt der Soziologe im Grünbuch „Alternde Gesellschaft“, das von der Initiative „7 Jahre länger“ unterstützt wird. Zwar habe die Bundesregierung mit ihrer „Demografie-Strategie“ ein Augenmerk auf das Verhältnis von Jung und Alt gelegt, konkrete Aussagen fehlten jedoch. Wilkoszewski hält beispielsweise eine weitere Flexibilisierung des Renteneintrittsalters für unumgänglich: „Eine abzusehende Lebensspanne von 80, 90 oder 100 Jahren steht einem nur langsam steigenden Renteneintrittsalter diametral entgegen.“

Generationengerechtigkeit betrifft aber nicht nur die Frage, wie die finanziellen Ressourcen verteilt werden. Dahinter verbirgt sich auch ein Wertekonflikt. Ältere sind konservativer, risikoscheuer und weniger veränderungsbereit als die Jugend. Dies galt zwar zu allen Zeiten. In Zukunft geben jedoch die Älteren in der Politik den Ton an. Wie offen, tolerant und pluralistisch wird die Gesellschaft dann noch sein? Schwelende Konflikte gibt es einige, etwa beim Thema Familienförderung: Während für viele junge Menschen die Ehe keinen großen Stellenwert mehr hat, halten führende Sozialpolitiker an diesem Idealmodell fest. „Die dringend notwendige Diskussion, was moderne Formen familiärer Stabilität eigentlich sind und ob der Staat sie fördern kann, bleibt aus“, kritisiert Wilkoszewski vom WZB.

Jugend ist in den Parteien kaum noch vertreten

Gelegenheit zur Diskussion böten eigentlich die Parteien. Doch dort kommen die Generationen nicht mehr wirklich zusammen. Das Durchschnittsalter bei SPD und CDU liegt inzwischen bei 60 Jahren, bei den übrigen Parteien sieht es kaum besser aus. So wirken sie nicht gerade attraktiv für Jugendliche, bei denen die Skepsis gegenüber parlamentarischen Strukturen und Parteien ohnehin sehr verbreitet ist. Wenn Parteien den Querschnitt der Bevölkerung jedoch nicht mehr abbilden, gefährdet das die Legitimation des demokratischen Systems insgesamt.

Zwar zeigt sich weder an der Spitze der Parteien noch in den Parlamenten das Übergewicht der Älteren. Im Bundestag oder den Landtagen sind die über 60-Jährigen – wie auch die Jüngeren – sogar unterrepräsentiert. Für Gründinger ist jedoch nicht entscheidend, wer im Parlament sitzt, sondern wer über dessen Zusammensetzung bestimmt: „Auch junge Politiker müssen Politik für die Älteren machen, wenn sie wiedergewählt werden wollen.“

Eher Arm gegen Reich statt Jung gegen Alt?

Johanna Uekermann will von einem Kampf Jung gegen Alt jedoch nichts wissen. „Mir geht es um soziale Gerechtigkeit. Deshalb interessiert mich auch der 60-Jährige, der wenig verdient“, sagt die Bundesvorsitzende der Jusos, der Jugendorganisation der SPD.  Den Vorwurf, die Politik vernachlässige die Interessen der jungen Generation, lässt sie nicht gelten. Sie kämpfe beispielsweise für mehr Planbarkeit bei der Karriere und trete für ein Ende der sachgrundlosen Befristung ein. „Von der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse sind die jungen Leute am stärksten betroffen“, sagt Uekermann.

Auch Demoskopen sehen die größeren Konfliktlinien im aktuellen Wahlkampf eher zwischen Arm und Reich oder Deutschen und Ausländern, als zwischen Jung und Alt. „Bei den wichtigen Themen gibt es nicht so viele Unterschiede zwischen den Generationen“, sagt zum Beispiel Andrea Wolf von der Forschungsgruppe Wahlen, die das «Politbarometer» erstellt. Ältere interessieren sich für Themen rund um die Rente naturgemäß mehr als Jüngere, während wiederum die Bildungspolitik vor allem für die mittleren Altersgruppen eine größere Rolle spielt. Welches Thema am wichtigsten ist, darüber seien sich Alt und Jung jedoch einig: Flüchtlinge, Integration und Asyl, so Wolf.

Mehr Druck von der Straße

Jusos-Chefin Uekermann hält es dennoch für wichtig, dass die Jugend mehr Einfluss erhält. Sie fordert, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. An der Übermacht der Älteren wird das allerdings nur wenig ändern. Soziologe Wilkoszewski schlägt deshalb auch mehr Bildungsangebote für alle Altersgruppen vor, damit jede Gruppe ein stärkeres Bewusstsein für die Bedürfnisse der anderen entwickelt. So könnten die Belange der unterrepräsentierten Jugend in der Politik mehr Berücksichtigung finden.

Zukunftslobbyist Gründinger fordert die Jugend auch dazu auf, ihre Forderungen künftig deutlicher zum Ausdruck zu bringen. „Die junge Generation muss lauter werden und auf die Straße gehen.“ Dass Proteste wirksam sind, belegen die Demonstrationen gegen das Freihandelsabkommen TTIP im Vorjahr. Sie sorgten mit dafür, dass die Verhandlungen ausgesetzt wurden. Für solch gezielte Aktionen lassen sich Jugendliche leichter gewinnen, denn dafür brauchen sie kein Parteibuch.

Den einen oder anderen Tipp, wie man  eine effektvolle Demonstration veranstaltet, könnte sich die Jugend ja bei den Älteren holen. Denn die wissen nur zu gut, wie man sich lautstark bemerkbar macht. Schließlich waren die 1980er das Jahrzehnt der Massenproteste.