„Wir leisten mit unserem Telefon wichtige Präventionsarbeit“
Der Verein Silbernetz bietet eine bundesweite Hotline an, wo ältere Menschen mit Einsamkeitsgefühlen anrufen können. Welche Sorgen die Hilfsbedürftigen haben, erklärt Gründerin Elke Schilling.
Elke Schilling ist Gründerin des Vereins Silbernetz, der sich gegen Altersdiskriminierung einsetzt. Sie hat zudem ein Buch geschrieben über Strategien gegen Einsamkeit im Alter.
Frau Schilling, mit ihrem gemeinnützigen Verein Silbernetz bieten Sie seit 2018 ein Hilfetelefon für Menschen ab 60, die ein offenes Ohr suchen. Was war der Beweggrund?
Elke Schilling: Wir wollten etwas gegen die Einsamkeit älterer Menschen tun. In Großbritannien ging schon 2013 die Silver Line Helpline an den Start. Unser Ziel war es, dieses Modell nach Deutschland zu übertragen. Einsamkeit im Alter war hier lange kein Thema. Alle sagten, die Idee ja ganz nett, aber es braucht doch keiner und wo wollt ihr das Geld herkriegen? Wir haben fast vier Jahre gebraucht, um an den Start zu gehen. Angefangen hatten wir mit einem Feiertagstelefon zur Weihnachtszeit 2017. Allein in der kurzen Zeit hatten wir 300 Anrufer, womit wir belegen konnten, dass so etwas gebraucht wird. 2018 haben wir dann eine Lotto-Förderung bekommen und konnten richtig durchstarten.
Wie groß ist die Resonanz?
Schilling: Wir haben klein in Berlin angefangen. Mit Corona haben wir die Hotline dann deutschlandweit freigeschaltet. Und gerade in der Corona-Zeit haben wir gemerkt, dass die meisten gar keine Dienstleistung wollen, sondern einfach jemanden zum Reden, weil ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. In den sechs Jahren, die es uns nun gibt, haben wir über 650.000 Anrufe gehabt. Täglich rufen ungefähr 200 bis 230 Menschen an.
Mit welchen Anliegen kommen sie?
Schilling: Das ist unterschiedlich. Es melden sich Menschen, die quasi 24 Stunden allein zu Hause sind, weil die Pflegekraft nur zweimal in der Woche kommt. Dann gibt es diejenigen, die uns regelmäßig morgens um acht Uhr, wenn wir unsere Leitungen freischalten, anrufen und sagen: „Ich habe jetzt mein Frühstück hier stehen, ich brauche jetzt mal drei nette Sätze, um in den Tag zu kommen und mich als Mensch zu fühlen.“ Und es gibt auch diejenigen, die in eine schwierige Notlage geraten sind, weil beispielsweise ihre Wohnung zwangsgekündigt wurde. Und die dann mit 80 oder 90 Jahren nicht nur ihre Wohnung verlieren, sondern auch ihr unterstützendes soziales Umfeld.
Ist die Einsamkeit Älterer eher ein Phänomen der Stadt- oder der Landbewohner?
Schilling: Einsamkeit ist auf dem Land genauso verbreitet wie in der Stadt. Das ist auch logisch. Wenn ich nur drei Nachbarn habe, dann ist die Auswahl, um sich mit jemandem zu treffen, geringer. Es gibt aufgrund der strukturellen Änderungen auch nicht mehr die Treffpunkte in ländlichen Gebieten wie früher: keine Kneipe, keine Kinos, kein Einkaufladen. Das Idealbild von der seit Jahrzehnten intakten Dorfgemeinschaft entspricht in vielen Fällen nicht mehr der Praxis.
Sie haben mit „7 Jahre länger leben“ eine Kampagne gestartet, die einen ähnlichen Titel trägt wie die unsrige. Unser Claim bezieht sich auf eine Studie, wonach Menschen ihre Lebenserwartung um sieben Jahre unterschätzen. Welche Botschaft steckt hinter ihrer Kampagne?
Schilling: Er bezieht sich auf eine Studie, die besagt, dass Menschen mit einer positiven Einstellung zum Alter sieben bis zwölf Jahre länger leben. Wir wollen Menschen ermutigen, das Alter mit Freude und Heiterkeit anzugehen, sich mit den Möglichkeiten und Potenzialen auseinander zu setzen. Dann ist die Chance auf ein hohes Alter größer. Wer hingegen eine negative Einstellung zum Alter hat, der sieht auch keine Lebensperspektive für sich. Das ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wir kriegen am Telefon häufig mit, wie sich Menschen zurückziehen, weil sie glauben, es sei eh alles umsonst. Und eine Ursache für diese Haltung ist die Altersdiskriminierung, die ältere Menschen erleben.
Wie meinen Sie das?
Schilling: Das Altersbild in unserer Gesellschaft ist immer noch ausgesprochen negativ. Wenn meine Enkeltochter zu ihrem Bruder sagt „Du siehst aber alt aus“, dann ist das keine positive Bemerkung. Diese verinnerlichten Stereotypen führen dazu, dass Menschen sich selbst beschränken. Sie sagen: „Ich bin jetzt so alt, ich muss mich zurückziehen und darf niemandem zur Last fallen.“ Sozial erzeugte Stereotype prägen die Menschen in ihrer Haltung zu sich selbst und in ihren Erwartungen. Auch die Medien verinnerlichen diese Bilder und tun viel dafür, dass alte Menschen nicht wirklich präsent sind. Auch das ist Diskriminierung, wenn die Betroffenen nicht zu Wort kommen.
Was müsste sich ändern?
Schilling: Die Weltgesundheitsorganisation hat 2021 diese Dekade als Jahrzehnt des gesunden Alterns ausgerufen. Bei den damals vorgeschlagenen Maßnahmen steht an erster Stelle die Veränderung der Altersbilder, also die Art, wie wir denken, wie wir handeln und fühlen in Bezug auf das Alter. Damit Menschen eine Chance haben, gesund, respektiert und in Würde alt zu werden.
Nun ist Einsamkeit im Alter möglicherweise nicht nur das Ergebnis einer Selbstbeschränkung, wie Sie es nennen, sondern auch fehlenden Kontakten geschuldet.
Schilling: Sie sagen es. Damit das im Alter nicht passiert, ist Prophylaxe ganz wichtig. Das muss schon in jungen Jahren beginnen: Indem ich mir ein soziales Netz aufbaue, indem ich meine Kontakte pflege und mich nicht damit abfinde, wenn etwas wegbricht, sondern versuche, es zu ersetzen. Es gibt aber auch Situationen, in denen Menschen trotz eines intakten Umfelds in Einsamkeit schlittern, wenn sie beispielsweise nach dem Tod des Lebenspartners in tiefe Trauer fallen und diese selbst nach einem Jahr noch nicht ablegen können. Das Umfeld fühlt sich dann oft hilflos und meidet den Kontakt. Auch so entsteht Einsamkeit. Da kommt man in der Regel auch nicht mehr allein heraus. Wir können die Menschen ein Stück weit davor schützen, in diese chronische Einsamkeit zu fallen. Deswegen: Wir leisten mit unserem Telefon wichtige Präventionsarbeit. Eigenverantwortung bedingt außerdem, dass die Menschen noch im Stande sind, rauszugehen und sich zu treffen. Und viele sind es eben nicht mehr. Sie sind in ihren vier Wänden mehr oder weniger eingeschlossen. Auch sie brauchen unsere Unterstützung.
Nun gibt es heutzutage andere technische Möglichkeiten als früher. Hilft das gegen Einsamkeitsgefühle im Alter?
Schilling: Natürlich haben wir Social Media. Diese Technik muss man aber beherrschen. Je jünger die Menschen sind, die bei uns anrufen, desto wahrscheinlicher ist das auch. Bei den ganz Alten sieht das oft anders aus, ihnen fehlt die berufliche Sozialisierung mit der Technik. Auch die Pflegekräfte haben nicht die Zeit, ihnen das zu erklären. Was ich sagen will: Ich finde es großartig, dass es die Digitalisierung mit all ihren Möglichkeiten gibt. Ich sehe aber gleichzeitig, dass es eben eine nicht zu vernachlässigende Gruppe in der Bevölkerung gibt, die keinen Zugang zum Internet hat – und nicht immer, weil sie das nicht wollen. Manche wohnen zum Beispiel in Gegenden, wo man mobil sein muss, um an schnelles Internet zu gelangen.
Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit?
Schilling: Wie die meisten sozialen Organisationen sind wir unterfinanziert. Ich würde mir wünschen, für jeden der potenziell acht Millionen Menschen in Deutschland, die das Bedürfnis haben könnten, bei uns anzurufen, einmal pro Jahr einen Euro zu bekommen. Dann könnten wir das Silbernetz als nachhaltige Präventionsstruktur etablieren in diesem Land und wären nicht ständig der Gefahr ausgesetzt, im nächsten Jahr Insolvenz anzumelden, weil die Spenden nicht mehr in dem Maße reinkommen, wie wir sie brauchen.