„Wir brauchen endlich zeitgemäße Altersbilder“
Unser Altersbild ist immer noch geprägt von Klischees, sagt Expertin Ria Hinken. Es brauche ein Update. Dafür könne die Generation 60+ auch selbst etwas tun.
Ria Hinken ist Gründerin der Initiative Alterskompetenz. Damit kämpft sie gegen verstaubte Altersbilder an und will zugleich Ältere für digitale Anwendungen begeistern.
Frau Hinken, „gebrechlich“, „engstirnig“ und „wenig offen für Neues“ sind Eigenschaften, die häufig älteren Menschen zugeschrieben werden. Erkennen Sie diese Merkmale auch an sich selbst?
Ria Hinken: Nein, auf keinen Fall! Okay, vielleicht ein wenig gebrechlich (lacht). Ich habe ein kaputtes Knie. Aber ansonsten bin ich eher das Gegenteil: aktiv, wissbegierig, interessiert an neuen Dingen. Solche Eigenschaften machen für mich das Leben lebenswert. Aber man darf das nicht generalisieren. Natürlich gibt es Ältere, die zum Beispiel engstirnig sind. Ich glaube jedoch, dass das weniger eine Frage des Alters ist. Wer schon in jungen Jahren nicht aufgeschlossen war, wird es später eben auch nicht sein.
Welche Vorstellungen hatten Sie vom Alter, als sie noch jünger waren? Haben Sie sich davor gefürchtet?
Hinken: Ach, eigentlich nicht. Ich bin schon mein Leben lang beeindruckenden älteren Menschen begegnet. In England beispielsweise einer Frau – die wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Die ist mit 81 Jahren noch Motorrad gefahren! So will ich auch drauf sein, wenn ich alt bin, habe ich damals gedacht. Und bisher – ich bin jetzt 69 – gelingt mir das recht gut.
Wir Älteren von heute sind gravierend anders.
Dennoch scheint sich etwas verändert zu haben. Oder sind die Älteren von heute noch mit früheren Generationen vergleichbar?
Hinken: Absolut nicht. Wenn ich so an meine Eltern denke, das entspricht in keiner Weise mehr dem aktuellen Altersbild. Wir Älteren von heute sind gravierend anders, sind einfach viel fitter und leben durch den medizinischen Fortschritt auch wesentlich länger. Meine Großeltern zum Beispiel, die habe ich kaum oder gar nicht kennengelernt. Natürlich haben sich auch andere Voraussetzungen geändert: Wir haben nie einen Krieg erlebt. Ich hatte die Chance, mein Leben zu gestalten, war Flugbegleiterin, Motorradtesterin und bin viel in der Welt herumgekommen. Das alles trägt entscheidend dazu bei, dass man später ein positives Altersbild nach außen tragen kann.
Trotzdem hat eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gezeigt, dass weltweit jeder zweite Erwachsene noch immer voreingenommen gegenüber älteren Menschen ist. Warum halten sich negative Altersbilder denn so hartnäckig?
Hinken: Ich denke, das liegt zu einem großen Teil an der vorrangig negativen Berichterstattung. Eine immer älter werdende Gesellschaft wird oft nicht als etwas Fortschrittliches, sondern als bedrohlich dargestellt. Zu lesen ist da von den Alten, die das Sozial- und Gesundheitssystem belasten, oder vom 89-jährigen Autofahrer, der einen Unfall gebaut hat. Über die Älteren, die sich einem Fahrtraining zum Erhalt ihrer Reaktionsfähigkeit unterziehen, über die wird nicht berichtet.
Auch an Vorbildern mangelt es. Schauspielerinnen zum Beispiel bekommen, wenn sie älter werden, kaum noch Rollen. Wenn es doch mal einen Film gibt, der die positiven Seiten des Alters darstellt, dann läuft dieser um Mitternacht und nicht in der Primetime. Weiter geht’s im Berufsleben. Dort zählen schon die 50-Jährigen teilweise zum alten Eisen. Und aktuell werden die Älteren als „Risikogruppe“ eingestuft. Das macht uns auch nicht gerade sympathischer. Junge Menschen müssen auf extrem viel verzichten, um die Alten vor Corona zu schützen.
Ich denke, viele erkennen und ergreifen noch zu wenig die Chancen, die ihnen der Ruhestand bietet.
Aber sind die Älteren nicht auch ein Stück weit „mitverantwortlich“ für die Klischees, die ihnen anhaften?
Hinken: Ja, zum Teil haben wir uns das auch selbst zuzuschreiben. Nehmen wir die Kleidung. Da gibt es doch heute eine so große Freiheit! Natürlich spricht nichts dagegen, vorrangig Grau oder Beige zu tragen. Aber warum nicht etwas farbenfroher und moderner? Das ist doch nicht allein den Jungen vorbehalten. Ähnliches gilt für das Thema Liebe. Ich und mein Mann haben sehr spät geheiratet. Ich war 59, er 60. Da haben auch Altersgenossen ungläubig gefragt: „Was? In dem Alter?“ Das konnte ich gar nicht verstehen. Natürlich geht das! Was ich zudem in meinem Wohnumfeld beobachte: Ist der Ehepartner verstorben, lebt man oft ganz allein weiterhin im 150 Quadratmeter großen Haus. Die Leute gehen kaum raus, sind einsam, jammern darüber – aber tun nichts, um das zu ändern. Ich denke, viele erkennen und ergreifen noch zu wenig die Chancen, die ihnen der Ruhestand bietet.
Sie hingegen stellen sich überkommenen Stereotypen entgegen und haben das Forum Alterskompetenz gegründet. Was tun Sie dort genau?
Hinken: Ohne zu verleugnen, dass Älterwerden natürlich auch mit Einschränkungen verbunden sein kann, wollen wir ein Sprachrohr für die vielen aktiven Älteren sein. Dafür halte ich Vorträge auf Konferenzen, leite Workshops und veranstalte regelmäßig Online-Talks. Die Themen sind ganz verschieden: von der Veränderung der Altersbilder bis zur Ruhestandsplanung, vom demografischen Wandel bis hin zur Möglichkeit, als Senior Expert dem Arbeitsmarkt erhalten zu bleiben. Und ganz wichtig: die ältere Generation und die Digitalisierung.
Interessant. Denn eigentlich gelten Ältere ja als digitale Analphabeten.
Hinken: Nein, Ältere gehen sehr wohl mit der Zeit. Viele nutzen schon lange Smartphones, chatten, posten, ja sind sogar auf der neuen Plattform Clubhouse unterwegs. Manche brauchen nur ein bisschen „Nachhilfe“. Dann erkläre ich, wie man sich sicher online bewegt, welche praktischen Gesundheits-Apps es gibt oder welche Online-Spiele die geistige Fitness fördern. Das Interesse ist groß. Das sehe ich jeden Tag. Bei einem meiner Kurse war die älteste Teilnehmerin 92 Jahre.
Und die Corona-Krise trägt bestimmt auch dazu bei, dass immer mehr Senioren online gehen.
Hinken: Mit Sicherheit. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung [CM3] waren vor der Pandemie rund zwei Drittel der über 70-Jährigen nicht oder kaum im Netz unterwegs. Dieser Anteil wird sich durch die Kontaktbeschränkungen gravierend verkleinert haben. Die Leute überwinden ihre „Angst“, weil sie nicht völlig abgeschnitten sein wollen. Das wiederum kommt einem positiveren Altersbild zugute.
Wie das?
Hinken: Digitalisierung bedeutet mehr gesellschaftliche Teilhabe und macht Ältere sichtbarer. Zudem bringt digitale Kompetenz die Generationen miteinander in Kontakt und fördert das gegenseitige Verständnis. Wir planen zum Beispiel gerade ein Projekt, bei dem Schüler Älteren den Umgang mit Tablet und Smartphone erklären. Natürlich darf das Persönliche dadurch nicht ersetzt werden. Aber digitale Mittel wie Videotelefonie können Einsamkeit mindern, gerade wenn Kinder und Enkel weit entfernt wohnen. Und was das für einen Spaß macht! Zum Geburtstag habe ich meinen Mann mit einer Online-Party überrascht. 42 Freunde, die auf der ganzen Welt verstreut leben, waren mit dabei. Großartig.
Meinen Sie, man kann schon in jüngeren Jahren beeinflussen, welches Bild man im Alter abgibt?
Hinken: Ich kann hier nur raten, sich frühzeitig – vielleicht ab 50 – Gedanken über den Ruhestand zu machen. Wie man ihn sinnvoll und erfüllend gestaltet. Denn auch wenn man es sich finanziell leisten kann: Immer nur Reisen, ist doch langweilig. Gibt es Hobbys, Interessen und tragfähige Freundschaften? Kann man sich vorstellen, sich irgendwo zu engagieren, vielleicht seinen beruflichen Erfahrungsschatz weiterzugeben? Auch Loslassen ist ein wichtiges Thema. Falten zu akzeptieren und anzunehmen, dass man eben nicht mehr topfit ist. Vor allem Männer hadern oft mit dem Ende des Berufslebens, wissen dann nichts mit sich anzufangen, werden nicht selten griesgrämig oder sogar depressiv. Damit die Ehe nicht in die Brüche geht, sollte man sich daher beizeiten über Vorstellungen und Bedürfnisse austauschen.
Wir brauchen endlich zeitgemäße Altersbilder.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Hinken: Wir brauchen endlich zeitgemäße Altersbilder. Ich wünsche mir, dass Ältere mit all ihren Facetten wahrgenommen werden und dass man auch ihnen eine Zukunft zugesteht. Zudem könnte sich die Sprache gern hier und da verändern. Schließlich formt auch diese Altersbilder. Das Wort „Senioren“ zum Beispiel mag ich gar nicht. „Seniorenteller“, das klingt doch furchtbar, oder?