Studieren im Alter

09.07.2024

„Noch immer hung­rig nach Wis­sen“

Als junger Mann konnte Günter Blum nicht studieren. Das holt er im Alter nach: Geschichte an der Universität in Marburg. Jeden Tag etwas Neues zu lernen, halte ihn jung, sagt der mit 91 Jahren älteste Student Deutschlands.

Herr Blum, diese Frage stellt man in der Regel jungen Erwachsenen, aber: Wie läuft’s an der Uni? 

Günter Blum: Ach, ganz wunderbar. Ich besuche in diesem Semester eine Vorlesung zur deutschen Geschichte zwischen 1815 und 1871. Es geht um die Zeit nach Napoleon, also vom Wiener Kongress bis zur Reichsgründung. Hochinteressant. 

Klingt nach viel Lehrstoff.

Blum: Ich bereite mich immer sehr gut zuhause vor und lese vorher die empfohlene Literatur. Hinter meinem Lesesessel im Wohnzimmer steht ein großes Regal mit meinen „stummen Freunden“, meinen vielen Büchern. Pro Tag lese ich bis zu drei Stunden. Manchmal bis tief in die Nacht und am liebsten wissenschaftliche Literatur. Jede Vorlesung schließt dann meine Wissenslücken oder ist eine Wiederholung dessen, was ich schon weiß. 

Hatten Sie schon immer ein Faible für Geschichte? 

Blum: Neben Deutsch und Erdkunde war das mein Lieblingsfach. Ich war darin ein Einser-Schüler und habe den Unterrichtsstoff aufgesogen wie ein Schwamm. Aber das oder etwas anders nach der Schule zu studieren, daran war damals überhaupt nicht zu denken. 

Warum nicht? 

Blum: Ich bin 1932 geboren und habe den Zweiten Weltkrieg von Anfang bis Ende miterlebt. Mein Vater musste an die Front, unsere Wohnung wurde ausgebombt und meine Mutter, meine drei Geschwister und ich wurden evakuiert. Nach Kriegsende waren wir bitterarm. All unser Hab und Gut passte in einen Kinderwagen. Drei Jahre lang bin ich morgens hungrig aufgewacht und abends hungrig ins Bett gegangen. 30 Mark für eine weiterführende Schule war für meine Eltern unbezahlbar und ein Studium kam damit nicht im Geringsten infrage. Um Geld zu verdienen, habe ich also die Schule nach der neunten Klasse verlassen und mit 14 Jahren eine Lehre im Einzelhandel begonnen.

Haben Sie trotzdem berufliche Erfüllung gefunden?

Blum: Ja, absolut. Ich habe mich hochgearbeitet, vom Verkäufer für Herrenkonfektion bis hinauf zum Manager und Warenhausleiter bei einem großen Einzelhandelsunternehmen. Der Gedanke, irgendwann doch nochmal in einem Hörsaal zu sitzen, ist allerdings nie ganz verschwunden.  

Wann haben Sie den Gedanke in die Tat umgesetzt?

Blum: Noch nicht gleich nach dem Renteneintritt. Weil es mir Spaß gemacht hat, war ich trotz Ruhestand weiterhin für meine Firma tätig. Mit 74 hatte das ein Ende und ich wurde Seniorenstudent an der Universität in Freiburg. Zehn Semester lang habe ich mich dort mit griechischer und römischer Antike, mit Ägyptologie und den großen Weltreligionen befasst. Leider musste ich dann eine Pause einlegen, weil meine Frau schwer krank wurde. Zehn Jahre habe ich sie zuhause gepflegt. Nach ihrem Tod habe ich mich dann an der Philipps-Universität Marburg eingeschrieben. Und nun bin ich im 15. Semester. 

Ihr Alter hält Sie also nicht davon ab, Neues zu lernen? 

Blum: Die Antwort ist ganz einfach: Ich habe eine ungebrochene Neugier. Die gleiche wie damals als Schüler. Auch mit 91 Jahren bin ich noch immer hungrig nach Wissen. Im Alter nur die Füße hochzulegen, ist nichts für mich. Dafür ist mir die Zeit viel zu schade. Von Sätzen wie „Ach, dafür bin ich zu alt!“ halte ich gar nichts. Ich orientiere mich hier eher am chinesischen Philosoph Konfuzius, der sinngemäß sagte: „Man lerne bis zum Lebensende. Es hält jung.“ Und das kann ich nur bestätigen. Körperlich merke ich schon manchmal, dass ich 91 bin, aber im Kopf fühle ich mich nur halb so alt.

Was macht Ihnen am Studieren am meisten Spaß?

Blum: Vor allem das Zusammensein mit den jungen Studierenden. Wir Senioren sitzen ja mit diesen gemeinsam im Hörsaal und lernen. Nach der Vorlesung gehen wir manchmal noch in ein nahegelegenes Café, unterhalten uns und diskutieren. Ich lerne von ihnen und sie lernen von mir. Oft höre ich dabei etwas, was ich noch nicht wusste. Und ich gebe etwas weiter, was sie noch nicht haben: Lebenserfahrung. Ich bekomme viele Fragen zu meiner Vita und meinem Studium im Alter. Dabei wird mir viel Respekt und Zuspruch entgegengebracht. Das tut gut. 

Und Sie bekommen sicher auch viele Komplimente für Ihre Outfits. So ist in der Presse zu lesen, Sie seien der wohl „eleganteste Student Marburgs“. 

Blum: Ja, das stimmt. (lacht) Ich achte sehr auf mein Äußeres und meine Kleidung. Hose, Hemd, Weste, Krawattentuch – das muss alles zusammenpassen. Da bin ich pingelig. Das gilt auch für mein Gewicht. Ich esse ziemlich gesund. Wenig Fleisch und Wurst, dafür regelmäßig Fisch, Salate und Müsli. Zudem praktiziere ich seit 40 Jahren intermittierendes Fasten. Das heißt, zwischen meiner letzten Mahlzeit am Abend und meiner ersten Mahlzeit am nächsten Tag liegen grundsätzlich 16 Stunden. Ich wollte seinerzeit meiner Frau nicht zumuten, dass ich eine Wampe bekomme. (lacht) Und wie man sieht: Ich bin noch heute schlank und habe kein Diabetes. 

Was machen Sie sonst noch, um fit zu bleiben?

Blum: Früher waren meine Frau und ich passionierte Hochalpinwanderer. Jedes Jahr ging es in die Schweiz auf Touren bis knapp unter 3000 Meter Höhe. Zudem sind wir wahnsinnig viel Fahrrad gefahren. Bewegung gehört auch heute für mich zur Tagesroutine. Jeden Morgen nach dem Kaffee gehe ich zehn Minuten auf die Rudermaschine und mache 20 Minuten Gymnastik. Zugegeben, ab und zu „gönne“ ich mir ist eine Zigarre. Aber mit dem Zigaretten-Rauchen habe ich vor 60 Jahren aufgehört. Ich denke, das alles zusammen ist die Voraussetzung für ein langes Leben. 

Ein langes Leben, ja. Aber muss man sich mit über 90 nicht auch mit zahlreichen Gebrechen herumschlagen? 

Blum: Doch, natürlich. Meine Organe sind nun mal so alt wie ich. Ich muss drei Mal in der Woche zur Dialyse und hatte auch einen Schlaganfall. Seitdem kann ich in der Uni nicht mehr fließend, sondern nur noch in Druckschrift mitschreiben. Aber da gewöhnt man sich dran. 

Das heißt, Sie können mit den „Verlusten“ gut umgehen?

Blum: Ich hadere nicht mit dem Alter. Es ist, wie es ist. Statt mit dem eigenen Auto fahre ich mit dem Taxi zur Uni. Ich benutze aus Sicherheitsgründen eine Gehhilfe und habe mein Elektrofahrrad vor zwei Jahren abgegeben. Ich weiß, was ich kann, aber auch, was ich nicht mehr kann. Natürlich finde ich es schade, dass ich zum Beispiel meinen Wissensdurst nicht mehr durch große Reisen stillen kann. Noch mit 89 war ich in Usbekistan, bin durch die Wüste gewandert und habe mir alte Kulturstätten angesehen. Das geht heute nicht mehr. Da bin ich ganz realistisch, kann gut loslassen. „Nichts ist beständiger als der Wechsel“ – das ist mein Lebensmotto. 

Würden Sie also sagen, dass Sie – trotz Krankheiten – ein zufriedener Mensch sind?

Blum: Aber ja! Mir geht es trotzdem ausgezeichnet. Ich stehe jeden Morgen denkbar und demütig auf und freue mich, dass es mir so geht, wie es mir geht. Ich lebe im Haus meiner Tochter in einer eigenen Wohnung, habe zwar etwas Hilfe im Haushalt, bin aber sonst völlig autark. Einkaufen, Kochen, Wäsche waschen – das mache ich alles selbst. Zu klagen, zu nörgeln und zu meckern, das wäre Frevel und ist einfach nicht meine Art. 

Haben Sie sonst noch einen Tipp, wie man glücklich alt wird?

Blum: Ich denke, das hat wirklich viel mit der Einstellung zu tun. Sich selbst auch mal auf den Arm nehmen, hilft. Genauso wie Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Menschen. Kultur und Religion spielen für mich grundsätzlich keine Rolle. Wichtig ist für mich, wie der Mensch ist. Dadurch besitze ich bis heute viele soziale Kontakte. Mit den Rettungshelfern, die mich zur Dialyse fahren – diese kommen unter anderem aus Afghanistan und Syrien – habe ich zum Beispiel praktisch schon eine Freundschaft. Meine wichtigsten Lebenselixiere sind und bleiben aber meine Interessen: Fotografieren, klassische Musik – und mein Wille, mich jeden Tag in ganz verschiedenen Bereichen weiterzubilden. 

Womit beschäftigen Sie sich denn im Moment?

Blum: Mit den Hunza. Das ist ein Volk in Pakistan, das in einem Hochtal lebt und sich hauptsächlich von Kefir und Aprikosen ernährt. Fleisch dagegen kommt kaum auf den Teller. Wohl ein Grund, warum die Hunza zu den gesündesten Menschen der Welt gehören – und steinalt werden. 

Da haben Sie sicher auch schon von den „Blauen Zonen“ gehört, oder? 

Blum: Oh, nein, was ist das? 

Das sind Regionen der Welt, in denen die Menschen viel länger leben als der Durchschnitt. So gibt es auf Ikaria in Griechenland und auf der Nicoya-Halbinsel in Costa Rica besonders viele Hundertjährige. 

Blum: Klingt interessant. Darüber werde ich mich dann gleich mal im Internet informieren. Denn auch ich habe einen Wunsch: Ich möchte 101 werden.

Und wie lange wollen Sie noch studieren? 

Blum: Auf jeden Fall auch im nächsten, dem 16. Semester. Aber am liebsten noch bis zu meinem 100. Geburtstag!