„Im Alter vorrangig Gewinne zu sehen, kann das Leben verlängern“
Von krank bis einsam: Mit dem Älterwerden verbinden wir meist Verluste. Besser für die Lebenserwartung ist jedoch eine positive Sicht, sagt Psychologin Susanne Wurm. Zumal viele negative Vorstellungen ohnehin längst widerlegt sind.
Prof. Dr. Susanne Wurm ist Psychologin und eine international bekannte Alternsforscherin. An der Universitätsmedizin Greifswald leitet sie die Abteilung für Präventionsforschung und Sozialmedizin am Institut für Community Medicine.
Frau Wurm, beim Älterwerden scheint es strenge Regeln zu geben. Das erlebt gerade die US-Sängerin Madonna (65), der vorgeworfen wird, nicht „in Würde“ zu altern. Ihre sexy Outfits, extravaganten Frisuren und lasziven Bühnenshows seien Altersverweigerung und so langsam müsse doch auch mal gut sein damit. Wie sehen Sie das?
Susanne Wurm: Meiner Meinung nach ist ihr Verhalten in erster Linie total stimmig. Sie steht seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit, hat schon immer versucht, zu provozieren, und ist sich somit einfach treugeblieben. Alles, was Madonna macht, macht sie ja nicht erst jetzt im Alter. Dass sie die 65 vielleicht ein Stückweit verweigert, finde ich daher grundsätzlich gar nicht so schlimm.
Warum wird denn überhaupt diskutiert, ob Madonnas Verhalten „altersgerecht“ ist?
Wurm: Weil es in unserer Gesellschaft eigentlich keine konkreten Vorstellungen darüber gibt, was eine ältere Person tun soll beziehungsweise „darf“. Kinder entdecken die Welt und gehen zur Schule; junge Erwachsene gehen feiern, machen eine Ausbildung und bereiten sich auf die Familiengründung vor. Da haben wir überall genaue Bilder vor Augen. Aber bei Älteren? Hier wissen wir nur, was sie bitte schön alles NICHT mehr machen sollen, was NICHT mehr als angemessen gilt und NICHT mehr möglich ist. Das beginnt bei bestimmten Kleidungsstücken, von denen ab einem bestimmten Alter abgeraten wird. Und endet beim verhinderten Wohnungskauf, weil irgendwann kein Kredit mehr gewährt wird. All dieses „Nicht-Mehr“ ist Ageism, also Altersdiskriminierung, und meiner Ansicht nach ein ziemliches Unding. Denn in den Ruhestand gehen und alles nicht mehr machen – das ist doch keine Option.
Dass niemand so recht als „alt“ betitelt werden möchte, ist da nicht verwunderlich, oder?
Wurm: Ja, das können wir auch durch unsere Forschung bestätigen. Fragt man zum Beispiel Menschen, ab wann sie jemanden als „alt“ bezeichnen würden, sind es erst die Mitte 70-Jährigen, die sagen: Wer so alt ist wie ich, ist alt. Alle Altersgruppen davor grenzen sich hier deutlich ab und schaffen zum Teil eine Jahrzehnte umfassende Differenz zwischen dem eigenen Alter und dem Zustand „alt“. Viele wollen so lange wie möglich zu den Jungen gehören.
Warum ist das so?
Wurm: Das liegt an den negativen Altersbildern, die leider noch immer weit verbreitet sind. Denn wir kommen auf die Welt und werden schon – unter anderem durch Kinderbücher – mit negativen Altersstereotypen konfrontiert. Als junge Menschen werten wir uns damit auf: Wir sind die Tollen und Produktiven, wohingegen die Alten langweilig und nicht mehr leistungsfähig sind. Rutscht man dann selbst in die Altersgruppe der Älteren, widerspricht man dem nicht, ergibt sich den negativen Altersbildern und wertet sich ab. Weil uns solche Denkmuster eben schon ein Leben lang begleiten.
Ja, man hat verinnerlicht: Alter = Gebrechen, Starrsinn und Verlust von Schönheit und sozialen Kontakten. Kann die Forschung hier denn ein anderes Bild zeichnen?
Wurm: Auf jeden Fall. So haben wir beispielsweise in einer Untersuchung gefragt, wie alt sich die Menschen fühlen, und dann verglichen, wie sich das über die letzten Jahrzehnte hinweg verändert hat. Das erstaunliche Ergebnis: Ein 60-Jähriger von heute fühlt sich jünger als ein 60-Jähriger, der in einem früheren Jahrgang geboren wurde. Wie tief verwurzelt Vorurteile gegenüber dem Alter sind, beobachte ich auch bei meinen Studierenden. Diese frage ich gern, was sie schätzen, wie viele der älteren Menschen sich einsam fühlen. Mehr als 55 Prozent, sagt die Mehrheit.
Stimmt das etwa nicht?
Wurm: Nein, das ist eine totale Fehleinschätzung. Und die Verwunderung ist dann immer groß, wenn ich erkläre, dass die Vorstellung von den „einsamen Alten“ ein Mythos ist. Denn die Wahrheit ist, dass wir in nahezu allen Altersgruppen ab 40 Jahren eine Einsamkeitsrate von unter zehn Prozent haben. Nur bei Männern im mittleren Alter sowie bei Frauen über 90 liegt sie bei 13 beziehungsweise 14 Prozent.
Wie kommt es denn zu solchen „gefühlten“ Wahrheiten?
Wurm: Ich denke, hier werden die Begriffe Einsamkeit, soziale Isolation und Alleinleben wild durcheinander gerührt. Wenn eine ältere Person alleine wohnt, weil es eine Trennung gab oder der Partner verstorben ist, muss das nicht automatisch bedeuten, dass sie einsam ist. Einsamkeit ist ein rein subjektives Gefühl, das sich nicht an der Größe des sozialen Netzwerks, sondern am individuellen Bedürfnis nach emotionaler Nähe bemisst. Auch wer alleine wohnt, kann einen emotional engen Freundeskreis besitzen. Vor allem Frauen genießen im Alter oft eine neue Art von Freiheit. Einige verpartnern sich zwar wieder, leben aber getrennt. Weil sie keine Lust mehr haben auf alte Rollenbilder, auf das erneute Kochen und Putzen für zwei.
Gibt es noch weitere Altersmythen?
Wurm: Ja, natürlich, wo soll ich anfangen? (lacht)
Wie sieht es mit der Persönlichkeit aus? Ist man im Alter wirklich eingefahren?
Wurm: An der Überzeugung von Sigmund Freud, die Persönlichkeit sei mit 50 in Stein gemeißelt, sollten wir uns nicht mehr festhalten. Die gesamte Forschung der letzten Jahre zeigt, dass wir uns bis ins Alter verändern, dass die Persönlichkeit nicht irgendwann „fertig“ ist und dann stagniert. Selbst ein früher eher zurückgezogener Mensch kann im Alter geselliger werden. Und auch Psychotherapie kennt keine Altersgrenze. Schlimm finde ich Sätze wie „Willst du dir das in deinem Alter wirklich noch antun?“. Ich kann da nur ermutigen. Bis ins hohe Alter können solche Maßnahmen helfen, die Lebenszufriedenheit zu verbessern und sogar auch, Traumata aufzuarbeiten.
Und wie steht es um die Lernfähigkeit?
Wurm: Das Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist in vielen Köpfen verankert. Wir können jedoch – wenn auch etwas langsamer – bis ins hohe Alter neue Dinge lernen und geistig beweglich bleiben. Aber oft stehen uns hier und an vielen anderen Stellen im Leben unsere inneren Einstellungen im Weg. Wir meinen, es wäre zu spät fürs Lernen, für einen anderen Beruf oder eine neue Liebe. Unsere Altersbilder hinken dem aktuellen Forschungsstand hinterher. Das kann negative Folgen haben, denn solche Denkweisen haben auch Einfluss auf die Lebenserwartung.
Interessant. Nicht rauchen, viel Bewegung und gesunde Ernährung – sind das nicht die zentralen Faktoren für ein langes Leben?
Wurm: Durchaus. Zahlreiche Studien kommen aber zu dem Schluss, dass zusätzlich unsere Altersbilder mit Langlebigkeit und Gesundheit zusammenhängen. Bereits vor rund 20 Jahren hat meine Kollegin Becca Levy aus den USA herausgefunden, dass positive Vorstellungen vom Älterwerden zu einem längeren Leben beitragen. Auch mein Team und ich haben uns mit diesem Thema beschäftigt. Die wohl spannendste Erkenntnis: Für Langlebigkeit scheint es vor allem wichtig zu sein, das Älterwerden gewinnorientiert zu betrachten. Oder anders: Im Alter vorrangig Gewinne zu sehen, kann das Leben verlängern. Das heißt, dass man das Alter mit Plänen und Zielen assoziiert, mit persönlicher Weiterentwicklung, mit Zeit für Interessen und soziale Kontakte und dem Wunsch, neue Dinge zu lernen. Weniger wichtig ist hingegen, wenn Menschen das Älterwerden auch mit gesundheitlichen Beschwerden verbinden. Man kann das Alter also durchaus mit körperlichen Verlusten rechnen – eine Auswirkung auf die Lebenslänge scheint dies jedoch nicht zu haben.
Aber es gibt doch Unterschiede zwischen einem pensionierten und verheirateten Anwalt und einem alleinstehenden Dachdecker im Ruhestand. Leben trotzdem beide länger mit einer positiven Sicht auf das Älterwerden?
Wurm: Natürlich reicht positives Denken allein nicht aus und es spielen auch Aspekte wie Bildung, Einkommen, Gesundheitszustand und Lebenszufriedenheit eine Rolle. Und dennoch: Selbst, wenn man all diese Faktoren berücksichtigt, bleibt der lebensverlängernde Effekt der gewinnorientierten Sichtweise bei allen erhalten.
Wie funktioniert das genau? Wie hängen unser Denken und die Lebenslänge zusammen?
Wurm: Hier gibt es drei Erklärungen. Erstens: der Lebensstil. Wenn ich eine positive Sicht auf das Älterwerden habe, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass ich mich gesünder verhalte. Dass ich mich ausgewogener ernähre, mich mehr bewege und mehr Wert auf Prävention lege. Zweitens: Stress. Wer positiv aufs Alter blickt, erlebt weniger Stress. Das senkt unter anderem das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und entzündliche Prozesse im Körper. Und drittens: Selbstwirksamkeit. Habe ich weiterhin Ziele, Pläne und Interessen, kann mir das ein Gefühl von Kontrolle, aber auch Sinn im Leben geben. Man ist dem Älterwerden nicht hilflos ausgeliefert, sondern hat sein Leben selbst in der Hand und kann auf Dinge aktiv einwirken. Diesen Effekt konnten wir sehr schön in einer aktuellen Schlaganfall-Studie nachweisen. In dieser hat sich nämlich gezeigt, dass Menschen mit positiven Altersbildern ein Jahr nach dem Schlaganfall besser genesen sind. Sie hatten eine höhere Lebensqualität und waren im Alltag weniger durch mangelnde Mobilität beeinträchtigt.
Haben Sie denn einen Rat, wie man veraltete Denkmuster aufbrechen und damit positiver mit dem Älterwerden umgehen kann?
Wurm: Das Einfachste ist wohl, im Alltag möglichst intergenerational zu leben. Also als jüngerer den Kontakt zu älteren Menschen unterschiedlichster Couleur zu suchen. In der Familie, in der Nachbarschaft, im Sportverein, im Supermarkt. Umgekehrt gilt das natürlich auch für die Älteren. Sie haben teilweise auch fürchterlich einseitige Vorstellungen von jungen Menschen. Dass diese mehr Freizeit als Arbeit wollen und sich den ganzen Tag nur fürs Klima auf die Straße kleben. Toll wäre, wenn es öfter Freundschaften zwischen Jung und Alt geben würde. Hier kommen uns viel zu oft unsere Altersbilder in die Quere und wir meinen, die „naiven“ Jungen und die „weisen“ Alten würden nicht zusammenpassen. Dabei gibt es auch unheimlich lebenserfahrene junge und unheimlich unbedarfte ältere Menschen. Mit der reinen Lebenszeit hat das wenig zu tun. Es braucht einfach mehr Austausch. Was wir dagegen nicht brauchen, ist das Wort „noch“.
Wie meinen Sie das?
Wurm: Sätze wie „Toll, dass Sie das in Ihrem Alter noch können!“ sind der Inbegriff von Ageism. Da schwingt die Vorstellung mit: Noch geht’s, noch kannst du joggen, noch kannst du dich weiterbilden. Aber bald nicht mehr, bald ist alles vorbei. Das stimmt so aber einfach nicht. Nicht alle werden im Alter automatisch etwa bettlägerig, denn durch Kraft- und Gleichgewichtstraining lassen sich beispielsweise Stürze oftmals vermeiden. Nicht alle leiden im Alter unweigerlich unter Typ 2-Diabetes, denn durch Medikamente, Gewichtsabnahme und Ernährungsumstellung lässt sich die Erkrankung sogar erstaunlich oft wieder heilen. Natürlich haben wir alle ein Lebensende – aber bestimmte negative Dinge treten zum Glück vor diesem Lebensende bei vielen einfach gar nicht auf. Wenn ich in meiner Forschung mit älteren Menschen zusammenarbeite, versuche ich daher den Blick auf das Positive zu lenken. Gern frage ich, was eigentlich schön ist am Älterwerden, und fordere sie auf, eine Liste anzulegen.
Welche Dinge schreiben sie so auf?
Wurm: Da kommt einiges zusammen: Freiheit genießen, Reisen können, Zeit mit den Enkelkindern verbringen, sich Hobbys widmen, endlich mal Muße haben und nichts tun. Vor allem Letzterem sollten wir immer auch Raum geben. Die Älteren müssen nicht immer aktiv sein. Den Begriff des „aktiven“ oder „erfolgreichen“ Alterns finde ich völlig unnötig. Das schafft schon wieder Erwartungen, wie man sich zu verhalten hat. Es geht doch darum, für sich persönlich das Leben erfüllt leben zu können. Und für manche bedeutet das Müßiggang. Nicht jeder muss im Ruhestand mit dem Fahrrad über die Alpen fahren.
Dann halten Sie sicher auch nicht viel von Aussagen wie „60 ist das neue 40“, oder?
Wurm: Natürlich ist da durchaus etwas dran. Wir leben länger und sind länger fit. So richtig glücklich bin ich mit derartigen Botschaften trotzdem nicht, denn da steckt wieder jede Menge Age-Shaming drin. Warum muss man die Menschen denn immer irgendwie jünger machen? Warum muss man immer nur etwas gegen das Alter tun und kann es nicht einfach bejahen? Warum nicht 60 sein und Punkt? Wir machen immer noch viel zu viel an reinen Zahlen fest, obwohl das chronologische Alter wenig aussagekräftig ist. Vor allem mit steigendem Alter verlieren Zahlen immer mehr an Bedeutung. Wie will man denn zwei 60-Jährige oder gar zwei 80-Jährige auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Das ist kaum möglich, sie sind teilweise so, so unterschiedlich.
Sollten daher auch Begriffe wie „Seniorenteller“ oder „Seniorenhandy“ aus dem Sprachgebrauch verschwinden?
Wurm: Ja, unbedingt. Warum packt man da wieder ein Alterslabel drauf? Es gibt doch sicher auch Jüngere, die kleinere Portionen oder ein Smartphone ohne viel Schnickschnack bevorzugen.
Glauben Sie, dass sich die Altersbilder in den nächsten Jahren fundamental wandeln werden?
Wurm: Ich hoffe es. Einiges hat sich auch schon getan. Menschen wie Madonna zählen ja schon zur Generation der Babyboomer, einer ganz neuen Generation älterer Menschen. Die tragen bunt statt beige, haben teilweise ganz viel vor, wollen etwas erleben und sich nicht alle tatenlos auf den Alterssitz zurückziehen. Mit meiner Großmutter z. B. ist das gar nicht mehr vergleichbar. Sie hat zwei Weltkriege erlebt und hatte kaum Bildungschancen. 70, 80 oder gar 90 werden? Was heute selbstverständlich ist, war früher keine planbare Lebenszeit. Um die Jahrhundertwende lag die Lebenserwartung bei unter 40 Jahren.
Den demografischen Wandel betrachten Sie also auch als Chance?
Wurm: Absolut, ich beobachte das mit Spannung. Allein durch den Fachkräftemangel werden sich Altersbilder verändern müssen. Der früheren Disengagement-Theorie zufolge galt: Im Ruhestand hat man sich aus allem zurückzuziehen, um sich sozial quasi schon auf den Tod vorzubereiten. Man zieht sich immer weiter raus – und irgendwann verschwindet man. Davon sind wir zum Glück mittlerweile ganz weit entfernt.
Wie könnte es in Zukunft besser laufen?
Wurm: Schon heute entdeckt man ja mehr und mehr den Wert älterer Erwerbstätiger. Und ich denke, es ist nicht verkehrt, die Altersgrenzen bei der Rente flexibler zu gestalten: die einen gehen in den Ruhestand, die anderen arbeiten weiter. Niemand sollte sich rechtfertigen müssen, weil er mit 70 weiterhin gern ins Büro kommt. Hier wie überall brauchen wir ein Umdenken und ein Hinterfragen von Altersbildern. Wie möchte ich selbst im Alter leben? Wie möchte ich dann wahrgenommen und behandelt werden? Zu glauben, ich bin ja jung, das betrifft mich eh nicht, ist ein Fehler. Denn eines ist klar: Die Wahrscheinlichkeit, dass die meisten von uns irgendwann zur Gruppe der Älteren gehören, ist heute größer denn je. Und wie wir heute denken und handeln, hat Einfluss auf unser eigenes Leben im Alter.
Zum Buch: Gesund Älterwerden
In ihrem Buch „Gesund Älterwerden“ räumt Prof. Dr. Susanne Wurm mit gängigen Mythen auf, die beispielsweise zu Krankheiten, Vulnerabilität und Einsamkeit im Alter bestehen. Anhand aktueller Fakten aus der Forschung beantwortet sie zudem Fragen wie: Was kann man konkret tun, um gut für das Alter vorzusorgen? Welche Rolle spielen unsere Vorstellungen vom Älterwerden? Und können später geborene Jahrgänge erwarten, gesünder ins Alter zu kommen? Das Buch ist 2023 im Kohlhammer Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.