Midlife-Crisis

30.03.2020

„Eine große Chance, die Wei­chen neu zu stel­len“

Zur Lebensmitte stürzen viele in eine Sinnkrise. Kein Grund zum Verzweifeln, sagt Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Die Midlife-Crisis hat auch etwas Gutes.

Frau Perrig-Chiello, im Leben gehen wir immer mal wieder durch tiefe Täler. Warum ist aber gerade die Zeit zwischen 40 und 55 so krisenanfällig?

Pasqualina Perrig-Chiello: Weil es eine sehr dichte Lebensphase ist und der Stress in diesen mittleren Jahren kulminiert. Nie zuvor und danach im Leben tragen wir mehr Verantwortung und müssen mehr mit Pflichten verbundene Rollen ausfüllen. Viele sind Mutter, Vater und Ehepartner, sind schon jahrelang im Beruf und vielleicht die Karriereleiter hochgeklettert. Alles kommt irgendwie zusammen – und obendrauf treten auch noch Veränderungsprozesse zutage.

 

Welche denn?

Perrig-Chiello: Um die 40 beginnt sich der Körper zu verändern. Falten kommen, vieles ist nicht mehr so straff. Die Hormonumstellung sorgt zudem dafür, dass bei Frauen die Östrogen- und bei Männern die Testosteronwerte sinken. Das hat nicht nur Stimmungsschwankungen zur Folge. Für Frauen kommt das Ende der Fruchtbarkeit in Sichtweite. Männer merken, dass ihre Leistungsfähigkeit nicht mehr so hoch ist wie früher.

Die Endlichkeit des Lebens dringt also ins Bewusstsein?

Perrig-Chiello: Genau. Es wird deutlich, dass die Möglichkeiten – von beruflich bis partnerschaftlich – nicht mehr unendlich sind und sich das Zeitfenster, das einem zum Leben bleibt, kleiner wird. Man beginnt zu bilanzieren: Habe ich das Leben geführt, das ich leben wollte? Oft lautet die Antwort „Nicht ganz“ oder gar „Nein“. Denn in der ersten Lebenshälfte drehte es sich viel darum, Kompromisse einzugehen. Man steckte zurück, hatte wenig Zeit für sich. Bei vielen stellt sich ein Rollenüberdruss ein, das Gefühl, im Hamsterrad zu laufen. Die Folgen widerspiegeln sich auch in Statistiken: In keiner anderen Lebensphase werden mehr Ehen geschieden und mehr Burn-outs oder Depressionen diagnostiziert.

Hat das Ganze denn gar nichts Gutes?  

Perrig-Chiello: Doch, auf jeden Fall. Denn Unzufriedenheit ist auch ein klares Zeichen für die Notwendigkeit, etwas zu verändern. Eine große Chance, die Weichen neu zu stellen. Wichtig ist, nicht in der Krise zu verharren, sondern innezuhalten und sich bewusst Sinnfragen zu stellen. Was sind meine Vorstellungen von einem guten Leben? Was gehört dazu und was nicht? Das zu wissen, ist enorm bereichernd und bestimmt, ob wir im Alter gelassen und wieder zufrieden sind. Und nicht im Nachhinein sagen: Ach, hätte ich nur.

Gibt es Menschen, die anfälliger sind für eine Midlife-Crisis?

Perrig-Chiello: Leute, die zukunftsorientiert, flexibel und offen für Neues sind, haben eindeutig die besseren Karten und fallen in Umbruchphasen seltener in ein tiefes Loch. Angst vor Veränderungen und alles unter den Teppich kehren, rächt sich dagegen irgendwann. Man muss sich in den mittleren Jahren neu definieren. Oder wie der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sagte: Man kann die zweite Lebenshälfte nicht nach dem Modell der ersten leben.

Wie ist das gemeint?

Perrig-Chiello: Dass man nicht krampfhaft an alten Mustern festhalten sollte. Zum Beispiel Männer, die sich mit 60 noch als junger, potenter Super-Macho beweisen wollen. Oder Frauen, die sich mit 50 noch als „Girlie“ aufführen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Zum Glück sind Lebensläufe heute weniger standardisiert und im Prinzip ist alles jederzeit möglich. Und ja, man bleibt im Inneren die gleiche Person, aber die Umstände ändern sich durch das Älterwerden nun mal und man kann nicht so tun, als ob da nichts wäre. Das frustriert auf Dauer. Es gibt so viele ältere Frauen und Männer, bei denen man merkt: Die können Ja sagen zu ihrem Alter und müssen sich nicht verstellen.

Gefühlt ist die Midlife-Crisis vor allem eine Krise der Männer. Stichwort jüngere Geliebte. Doch stimmt das?

Perrig-Chiello: Krisenanfällig ist diese Zeit für Männer wie für Frauen. Allerdings stellen wir bei Männern häufiger radikale biografische Brüche fest. Gründe dafür sind etwa der unterschiedliche Prozess der Wechseljahre sowie der verschiedene Kommunikationsstil. Bei Frauen setzen die Wechseljahre klar spürbar ein. Sie sprechen über ihre Probleme, holen sich, wenn nötig, Hilfe und verändern ihr Leben zumeist ohne große Brüche. Bei Männern hingegen sinkt der Testosteronspiegel schleichend. Das ist tückisch, weil sie sich erst spät dieser Veränderungen bewusst werden. Zudem hängen viele noch in alten Geschlechterrollen fest, haben Mühe sich mitzuteilen. Mann muss selbst damit fertigwerden! Nimmt die Leistungsfähigkeit dann merklich ab, geben sie erst recht nochmal Gas. Gehen noch häufiger ins Fitnessstudio, kaufen eine Harley, nehmen einen ganz anderen Job an oder suchen sich zur eigenen Verjüngung eine jüngere Partnerin.


Der Begriff „Midlife-Crisis“ oder „Midlifekrise“ wurde vor allem in den 1970er populär. Seitdem ist die Lebenserwartung um fast zehn Jahre gestiegen. Hat das Einfluss auf die Krise in der Lebensmitte?

Perrig-Chiello: Die Talsohle des Lebens wird sich dadurch wohl nicht großartig nach hinten verschieben oder gar verschwinden. Denn die hormonellen Umstellungen finden ja seit Jahrhunderten immer zur selben Zeit statt. Neu ist aber, dass wir eine Zwischenbilanz unseres Lebens ziehen können – und dann auch noch Zeit und viele Möglichkeiten haben, um zu handeln. Noch vor ein paar Jahrzehnten war eine Person mit 50 bereits alt und brauchte sich kaum zu fragen, wie sie ihre zweite Lebenshälfte gestalten will. Heute haben wir Zeit für einen Befreiungsschlag, können Prioritäten nochmal anders setzen. Sich zu trennen oder beruflich umzusatteln, ist gesellschaftlich akzeptiert. Wir haben eine Perspektive. Die Ausgangslage ist also eine viel bessere.

Wie lief für Sie persönlich der Übergang in die zweite Lebenshälfte? Haben auch Sie eine Midlifekrise erlebt?

Perrig-Chiello: Auch für mich war das damals eine sehr stressige Zeit. Kinder, Haushalt, Partnerschaft, Beruf, eine Mutter, die krank wurde. Beruflich bin ich ziemlich auf der Stelle getreten, was sehr unbefriedigend war. Dann, mit Anfang 40, hatte ich einen Bandscheibenvorfall, war mehrere Wochen ans Bett genagelt und dadurch gezwungen, mal wirklich in mich zu gehen. Als es mir wieder besser ging, traf ich dann endlich eine Entscheidung: Karriere an der Universität vorantreiben und habilitieren. Im Rückblick bin ich sehr dankbar, dass ich diese Rückenerkrankung hatte – und auch, dass ich durch diese Krise gegangen bin. Sie war ein heilsamer Knick.