„Die Pandemie beeinflusst die Sterblichkeit für vielleicht zwei Jahre“
Corona hat in vielen europäischen Ländern zu einem Sinken der Lebenserwartung geführt. Ein genereller Trendwechsel sei dies aber nicht, betont der Demograf Dr. Marc Luy.
Dr. Marc Luy ist Leiter der Forschungsgruppe Gesundheit und Langlebigkeit am Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Herr Luy, die Lebenserwartung ist 2020 aufgrund von Corona in den meisten europäischen Ländern gesunken. Was lässt sich daraus ableiten?
Marc Luy: Es bedeutet schlicht, dass die Gesamtsterblichkeit im Vergleich zum Jahr vor der Corona-Krise angestiegen ist. Die Lebenserwartung nach der Periodensterbetafel ist ein Indikator für die Sterblichkeit innerhalb eines bestimmten Zeitraums, meist eines Kalenderjahres. Dieses Maß ist sehr wertvoll, weil die Maßeinheit Lebensjahr sehr leicht einzuschätzen ist. So kann sich jeder von der aktuellen Entwicklung ein Bild machen und sie mit der Lage in anderen Ländern vergleichen. Leider beziehen viele Menschen die Zahl jedoch auf sich und schließen daraus auf ihre eigene Lebenserwartung. Aber das ist eben falsch.
Warum denn?
Luy: Die Lebenserwartung nach der Periodensterbetafel basiert auf den aktuellen Sterbefällen und stellt sie in Bezug zu den heute Lebenden. Dann überträgt man dieses Verhältnis für jedes Altersjahr auf die heute Neugeborenen, woraus sich ein hypothetisches, durchschnittliches Sterbealter der heute Neugeborenen ableiten lässt. Das ist der Wert, den die durchschnittliche Lebenserwartung ausdrückt. Allerdings unterstellt man dabei, dass die heute Neugeborenen im Verlaufe ihres Lebens genau den Sterbewahrscheinlichkeiten des aktuellen Jahres, also ihres Geburtsjahres, ausgesetzt sind. Dass sie also in jeder Altersstufe die gleiche Sterbewahrscheinlichkeit erfahren, wie sie heute für die älteren Jahrgängen gemessen wird.
Das aber wird nicht der Fall sein, wie sich an Corona gut veranschaulichen lässt. Die Pandemie beeinflusst die Sterblichkeit für vielleicht zwei Jahre, besonders in den höheren Altersstufen, hoffentlich aber nicht länger. Nach der Periodensterbetafel für 2020 sind die Neugeborenen aber ihr ganzes Leben, in jedem einzelnen Altersjahr, der durch Corona beeinflussten Sterblichkeit unterworfen. Deswegen ist die Lebenserwartung zwar ein sehr guter Indikator für die Sterblichkeit des Jahres 2020, aber eben keine Prognose für die heute Neugeborenen oder sonst wen.
Der Rückgang ist für Sie also auch keine Überraschung?
Luy: Nein. Solche Effekte gibt es immer wieder: Wir hatten 2015 beispielsweise eine schwere Grippewelle, die einem Jahr mit sehr niedriger Sterblichkeit folgte. Auch damals war die Lebenserwartung dann im Vergleich zum Vorjahr gesunken. So wie damals ist aber auch der Rückgang der Lebenserwartung im Jahr 2020 kein Indikator für einen generellen Trendwechsel.
Wir sehen, dass sich der Anstieg während der letzten zehn bis 20 Jahre etwas abgeflacht hat.
Die Lebenserwartung wird wieder steigen?
Luy: Ja, davon ist auszugehen. Wir sehen aber, dass sich der Anstieg während der letzten zehn bis 20 Jahre etwas abgeflacht hat. Das gilt vor allem für die Lebenserwartung der Frauen, weniger für die der Männer. Deshalb nimmt auch der Unterschied zwischen den Geschlechtern wieder etwas ab.
Woran liegt das?
Luy: Das hat sehr viel mit dem Rauchen zu tun. Etwa die Hälfte der Differenz in der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern lässt sich darauf zurückführen. Als das Rauchen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts populär wurde, waren es zunächst vor allem die Männer, die zur Zigarette griffen. Bei den Frauen verbreitete sich das Rauchen etwa 20 bis 30 Jahre später. Als Folge driftete die Lebenserwartung ab den 60er-Jahren stark zugunsten der Frauen auseinander. In den frühen 80er-Jahren kehrte sich die Entwicklung um, weil dann die Folgen des Rauchens auch bei der Sterblichkeit der Frauen spürbar wurden, während die raucherbedingten Sterbefälle bei den Männern ein Plateau erreicht haben und seitdem sogar zurückgehen. Bei den Frauen nehmen sie dagegen noch bis heute zu.
Woran liegt es, dass die Männer dennoch immer noch knapp fünf Jahre den Frauen hinterherhinken?
Luy: Das hat einerseits biologische Ursachen, viel mehr liegt es aber am Gesundheitsverhalten der Männer. Sie sind häufiger in Unfälle verwickelt, leben insgesamt ungesünder und trinken beispielsweise mehr Alkohol. Auch sind die Raucherzahlen bei den Männern trotz der eben beschriebenen Entwicklung insgesamt höher als bei den Frauen. Schließlich sind Männer größeren beruflichen Gesundheitsrisiken ausgesetzt, wenngleich auch hier die Geschlechterunterschiede zunehmend geringer werden.
Wo sehen Sie noch Potenzial für einen weiteren Anstieg der Lebenserwartung?
Luy: Um die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung weiter möglichst effektiv zu erhöhen, müsste man vor allem die Menschen in der Bevölkerung identifizieren, die die geringste Lebenserwartung haben, und passende Strategien für sie entwickeln. Die entscheidende Determinante ist nach meinen Studien der soziale Status, also Einkommen, Bildung, Beruf oder Wohlstand. Menschen mit geringem Bildungsniveau haben eine signifikant niedrigere Lebenserwartung als gut Gebildete. Das gilt für beide Geschlechter, wobei die Unterschiede bei den Männern größer sind. Je höher der Sozialstatus ist, desto kleiner sind auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Das heißt, männliche und weibliche Akademiker liegen bei der Lebenserwartung nicht so weit auseinander wie Frauen und Männer aus niedrigeren Bildungsgruppen.
Wie lassen sich denn die Statusunterschiede auflösen?
Luy: Das ist ein Thema, über das noch viel geforscht wird. Eine Hypothese besagt, dass Personen mit einem höheren Sozialstatus über einen besseren Zugang zu sogenannten „flexiblen sozialen Ressourcen“ verfügen. Dazu gehören Geld, Wissen, Einfluss, Ansehen und vorteilhafte Netzwerke. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass Menschen mit einem größeren Zugang zu diesen Ressourcen schneller von neuen Technologien oder Behandlungsmöglichkeiten profitieren. Wir müssen es also schaffen, diese Neuerungen auch Menschen mit geringerem Sozialstatus leichter zugänglich zu machen. Ansonsten werden wir das Gefälle nicht auflösen. Denn die sozialen Unterschiede in der Lebenserwartung werden trotz der großen Bemühungen ja nicht kleiner.
Braucht es auch bessere Bildungsangebote? Statistiken zeigen doch, dass Menschen aus unteren sozialen Gruppen seltener Vorsorgeangebote nutzen oder öfter zur Zigarette greifen?
Luy: Bildung ist zweifellos ein wichtiger Faktor. Das sehen wir gut am Rauchen, das interessanterweise anfangs stärker in den oberen sozialen Gruppen verbreitet war. Die haben dann aber reagiert, nachdem immer mehr über die negativen Folgen bekannt wurde. Und heute tritt Lungenkrebs öfter in den unteren sozialen Schichten auf. Es geht bei der Frage nach den sozialen Ressourcen aber um mehr. Es bedeutet, auch die Freiheit zu haben, das Leben so gestalten zu können, wie man es möchte, was weniger Stress und Druck auf das persönliche Wohlbefinden ausübt.
Eine interessante Frage, die sich ja immer stellt: Inwieweit ist die Differenz zwischen den sozialen Gruppen Folge unterschiedlichen Verhaltens, und welchen Anteil haben die Lebensumstände?
Luy: Was ist Verhalten, was sind die Lebensumstände: Das ist schwer zu beantworten. Beim Rauchen würde ich sagen, dass heute wohl ziemlich jeder um die schädliche Wirkung weiß, so dass es eher der Kategorie Verhalten zugeordnet werden kann. Ansonsten ließe sich die Frage immer auch umdrehen: Inwieweit sind die Lebensumstände für ein bestimmtes Verhalten verantwortlich? Wer beispielsweise ohne Partner bleibt, was wiederum gerade bei den Männern mit geringem sozialen Status häufiger vorkommt, der profitiert eben auch nicht von der sozialen Fürsorge in einer Partnerschaft und achtet weniger auf sich, zum Beispiel bei der Ernährung. Was aus meiner Sicht auch unterschätzt wird, sind die Gesundheitsrisiken, die mit der Berufstätigkeit verbunden sind, vor allem berufsbedingte Stressfaktoren. Das sind ja auch die Gründe dafür, weshalb sich die Lebenserwartung der Geschlechter angleicht. Weil Frauen eben zunehmend den gleichen Risiken ausgesetzt sind wie die Männer.
Für einige Jahrzehnte gibt es da schon noch einiges Potenzial.
Zum Abschluss: Welche Steigerungen in der Lebenserwartung sind noch durch medizinische Fortschritte möglich?
Luy: Bei der Kinder- und Säuglingssterblichkeit sowie im jungen und mittleren Erwachsenen-Alter ist das Potenzial für den Gewinn zusätzlicher Lebensjahre nahezu ausgereizt, da kann nicht mehr viel dazu kommen. Ein weiterer Anstieg wird nur über Verbesserungen am hinteren Ende der Lebensspanne zu erreichen sein. Für einige Jahrzehnte gibt es da schon noch einiges Potenzial. Aber irgendwann könnten weitere Fortschritte dann nur noch durch eine Erhöhung des maximal möglichen Lebensalters erreicht werden. Die Optimisten unter den Lebenserwartungs-Forschern sagen, die Alterskrankheiten werden irgendwann besiegt sein, so dass sich auch das Maximalalter weiter erhöhen wird. Die Pessimisten meinen, dass dies aus biologischen Gründen nicht möglich ist. Ich bin kein Mediziner, deshalb vermag ich nicht zu sagen, inwieweit die Möglichkeiten, die menschliche Lebensspanne auszudehnen, schon erschöpft sind. Ich denke aber auch, dass wir – zumindest im Rahmen der heute verfügbaren Möglichkeiten – dem Maximum zumindest schon recht nah sind. Der Altersrekord von Jeanne Calment, die 122 Jahre alt wurde, besteht immerhin schon seit 1997. Seitdem gab es weltweit auch nur sehr wenige Menschen, die überhaupt annähernd so alt geworden sind. Aber auf weniger als drei Jahre kam noch niemand an dieses Alter ran.