Medizinethik

17.10.2019

„Die Moral stumpft ab“

Forscher wollen mithilfe von Tieren menschliche Ersatzorgane züchten, um unser Leben zu verlängern. Was verlockend klingt, wirft für Medizinethiker Gerald Neitzke viele Fragen auf.

Herr Neitzke, vor Kurzem hat der japanische Forscher Hiromitsu Nakauchi die Erlaubnis erhalten, an der Geburt einer Chimäre, eines Mischwesens aus zum Beispiel Ratte und Mensch, zu arbeiten. Was waren Ihre erste Gedanken – Gruselshow oder ganz normaler medizinischer Fortschritt?

GERALD NEITZKE: Ich war weder erschrocken, noch habe ich gedacht: ‚Oh Gott, ein schlimmer Tabubruch.‘ Mischwesen aus Mensch und Tier beziehungsweise die Verpflanzung von Organen über Speziesgrenzen hinweg gibt es schon seit Längerem. Denken Sie nur an die Maus, auf deren Rücken ein menschliches Ohr gezüchtet wurde. Die Frage, ob der Mensch ein Recht dazu hat, steht daher schon eine Weile im Raum. Sie ist nur um einen Aspekt erweitert worden: Darf die Medizin menschliche Organe im Tier züchten?

Vor dem Hintergrund des Spenderorganmangels würden sicher viele spontan sagen: Ja. Ziel der Wissenschaftler ist es zum Beispiel, eine menschliche Bauchspeicheldrüse im Tierkörper heranwachsen zu lassen. Das würde für Schwerkranke ein längeres Leben bedeuten.

NEITZKE: Das stimmt. Aber aus ethischer Sicht ist vor allem die Frage, welchen Status diese Mischwesen haben, drängend und noch nicht einheitlich beantwortet. Wie viel Mensch darf in einem Tier sein, sodass wir es noch als Tier anerkennen? Ab wie viel Mensch muss man diesem Tier den Status des Menschen und damit Menschenrechte zusprechen? In dem japanischen Versuch mag die Grenze noch nicht überschritten sein, die Maus oder Ratte als menschlich zu bezeichnen. Aber ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich noch mehr Organe in einem Tier heranzüchten lassen.

Ab wann wird es für Sie also wirklich moralisch bedenklich?

NEITZKE: Wenn ich mir zum Beispiel die Arbeit des spanisch-chinesischen Forscherteams vor Augen halte, das kürzlich menschliche Stammzellen in Affen-Embryonen eingeschleust hat, um menschliches Nervengewebe zu züchten. Hier könnte in ferner Zukunft zentrales Nervengewebe, bis hin zu einem menschlichen Gehirn, entstehen. Für mich ist aber eigentlich bereits eine Grenze überschritten, wenn ich an den Tierschutz denke. Ich finde es fragwürdig, dass wir Tiere so zurichten und ihnen dadurch die eigene Entwicklung verwehren. Was wir Menschen einem Tier antun, fällt letztlich auf uns selbst zurück – die Moral stumpft ab.

Vor einigen Jahren ist es Wissenschaftlern aus den USA gelungen, embryonale Stammzellen durch Klonen herzustellen. Theoretisch wäre es damit möglich, alle erdenklichen Organe zu züchten, die exakt zum Zellkern-Spender passen. Ist ein solches „Ersatzteillager“ nicht verlockend?

NEITZKE: Intuitiv würde man vielleicht zustimmen. Ich persönlich kann mir aber nicht vorstellen, dass eine Zwillingsanlage, ein geklonter Doppelgänger von mir irgendwo in der Gefriertruhe darauf wartet, dass bei mir die Nieren versagen, der aber selbst keine Lebenschance bekommt. Oder mal weitergedacht: Warum nicht gleich einen komplett lebenden Zwilling züchten und dann in irgendeiner Parallelwelt – analog zur Massentierhaltung also Massenklonhaltung – leben lassen? Müssen wir, weil er gezüchtet ist, uns um seine Würde und Rechte keine Gedanken machen? Das ist zwar ein Gedankenexperiment, aber es zeigt, in welche Richtung es gehen könnte. Es mag natürlich Menschen geben, die das ganz pragmatisch sehen. Für sie ist das eine anzustrebende Utopie.

Für den amerikanischen Anti-Aging-Aktivisten Aubrey de Grey sicherlich. Er vergleicht den Menschen mit einem Auto: Verschleißen die Teile, wird man sie in Zukunft einfach austauschen können und so seine Lebenserwartung enorm verlängern. Ist das nicht auch Heilung und damit die Aufgabe von Medizin?

NEITZKE: Als Arzt bin ich natürlich immer für neue Therapieoptionen dankbar. Aber in welche Richtung soll der medizinische Fortschritt eigentlich gehen? Hinter vielen Ansätzen steht das unausgesprochene Ziel, an der Unsterblichkeit des Menschen zu forschen. Er muss wieder neu, wieder frisch, wieder jung gemacht werden. Medizin als Reparaturbetrieb, wie eine Autowerkstatt. Die Akzeptanz des eigenen Älterwerdens und der eigenen Sterblichkeit geht dabei verloren.

Aber wer will denn nicht länger jung und gesund sein? Zum Beispiel durch Medikamente, die versprechen, die biologische Uhr ein Stückchen zurückzustellen.

NEITZKE: Es gibt bestimmte Lebensphasen und jede stellt uns eben vor bestimmte Herausforderungen. Ausweichen und Weglaufen erschweren es, sich auf die Endlichkeit des Lebens vorzubereiten. Dass es nämlich irgendwann keinen Plan B mehr gibt – und es dann auch gut so ist. Diese Einsicht in den Tod brauchen wir, um ein erfülltes und sinnvoll gestaltetes Leben leben zu können. Leider wird in unserer Gesellschaft gerade der Wert des Alters, der Reife und Lebenserfahrung wenig wertgeschätzt. Auch die Medizin hat das Ideal der Jugendlichkeit massiv mitbefördert.

Angenommen der Mensch könnte durch Organersatz oder eine „Alterstherapie“ tatsächlich einmal 150 Jahre alt werden. Was würde das für unsere Gesellschaft bedeuten?

NEITZKE: Es werden in absehbarer Zukunft nicht alle davon profitieren können. Denn Grundlage wäre ganz klar eine Zweiklassenmedizin, in der sich nur einige ein längeres Leben leisten können. Diese Verfahren sind sehr aufwendig, teuer – und absolut individualisiert. Therapien also, die eins zu eins für einen einzigen Menschen zum Einsatz kommen können.

Und eine Lebenserwartung von 150 Jahren? Das würde die Welt nicht ertragen. Natürlich hätte der einzelne vielleicht mehr Zeit für Selbstverwirklichung, könnte vielleicht drei Berufe erlernen. Aber wie lange müssten wir dann arbeiten, um die Sozialversicherungssysteme nicht zu sehr zu belasten? Und was ist mit Kinderkriegen? Das müsste beschränkt werden, damit sich die Zahl der Menschen nicht staut. Wir können eben nicht alles haben – ewig leben und so weitermachen wie bisher.