Lebensqualität im Alter

19.01.2017

„Der Begriff Ruhe­stand führt ja in die Irre“

Senioren sind selbstständiger und fitter als früher. Das steigert die Lebensqualität, sagt Alternsforscher Frieder Lang.

Herr Lang, Sie haben berufsbedingt viel mit älteren Menschen zu tun. Kommt es vor, dass Sie sich beim Alter der Personen verschätzen?

FRIEDER LANG: Das passiert mir öfter. Wie alt wir aussehen, spiegelt oft wider, wie wir unser Leben gestalten. Das bloße Aussehen hat also wenig Aussagekraft darüber, wie viele Jahre seit der Geburt vergangen sind.

Sehen Senioren heute denn insgesamt jünger aus?

LANG: Darüber könnte ich nur spekulieren. Ich kenne auch keine Studien dazu. Wir können aber anhand vieler Untersuchungen feststellen, dass sich die Gesundheit der Älteren insgesamt in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich verbessert hat. Das gilt sowohl für das körperliche Befinden als auch die kognitiven Fähigkeiten. Damit sind wir heute besser in der Lage, ein selbstständiges Leben im Alter zu führen. Das steigert die Lebensqualität und geht einher mit einer deutlich längeren Lebenserwartung.

Gute Gesundheit ist also der Erfolgsfaktor für ein langes Leben?

LANG: Gesundheit ist nur ein Aspekt. Es fällt ja schon schwer einzugrenzen, was Gesundheit bedeutet. Nicht selten wird der Begriff gleichgesetzt mit maximalem Wohlbefinden. Aber das ist falsch, weil Erkrankungen immer zum Leben dazugehören. Zwar nehmen im Alter die chronischen Erkrankungen meist zu. Wichtig ist aber, ob die Menschen trotz gesundheitlicher Einschränkungen weiterhin ein aktives und selbstbestimmtes Leben führen. Das ist auch für die Lebensfreude entscheidend. Wenn es hier einen Anstieg gibt, hat das auch mit technischem und sozialem Fortschritt in unserer Gesellschaft zu tun. Heute ist es möglich, noch bis ins hohe Alter sehr produktiv zu bleiben und aktiv teilzuhaben.

Es kommt demnach auch darauf an, wie wir die Rentenzeit ausfüllen?

LANG: Ja. Ich bin überzeugt, dass die Fortschritte in der Selbstbestimmung des Alters auch mit dazu beitragen, dass Menschen immer gesünder und länger leben. Individuelle Lebensstile werden heute stärker beachtet und respektiert. Mehr Menschen als früher haben die Möglichkeit, ihr Alter nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Das erhöht die Lebensfreude und dadurch die Gesundheit. Ich halte das für eine kontinuierliche Entwicklung über viele Jahrzehnte, die nicht von einem Tag auf den anderen passiert ist.

Was ist heute anders als früher?

LANG: Zum einen ist für viele der persönliche, soziale und technische Wohlstand gestiegen. Aber natürlich ist die Frage, welche Wünsche wir uns im Alter erfüllen können, auch abhängig von den finanziellen Möglichkeiten. Und darum ist Bildung ein so entscheidender Faktor für ein gesundes Altern. Auch im Alter kann man sich weiterbilden. Zudem haben sich die Fortbewegungsmöglichkeiten verbessert und das Internet versorgt uns schnell mit Informationen, auch das befriedigt Bedürfnisse. Darüber hinaus sind freiwillige Tätigkeiten älterer Menschen immer selbstverständlicher geworden.

Das Bild vom Stubenhocker passt nicht mehr?

LANG: Absolut. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass das Alter eine Zeit des Stillstands ist. Schon der Begriff Ruhestand führt ja in die Irre. Menschen profitieren in jeder Lebensphase davon, wenn sie aktiv sind, auch noch im höchsten Alter. Es geht dabei oft um geistige Flexibilität. Das sehen wir überall, wo Menschen sehr lange leben, etwa auf Okinawa oder auf Sardinien. Der Lebensstil der Älteren dort ist geprägt von sinnvollen Beschäftigungen und der großen Bereitschaft, sich mit anderen auszutauschen ohne sich dabei zu überfordern. Und darum geht es: eine ausgewogene, produktive Balance zwischen Aktivität und Erholung.

In einer alternden Gesellschaft ist die Arbeitskraft der Senioren unverzichtbar. Bietet das künftig noch mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung im Alter?

LANG: Durchaus. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass ältere Menschen meist produktiv sind. Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass die Psychologie unter Produktivität etwas anderes versteht als Wirtschaftswissenschaftler: Nämlich alles, was Menschen gut tut, also auch persönliche, psychologische Gewinne zählen dazu. In dieser Hinsicht ist auch im Alter ein großes Potenzial verfügbar, das wir besser nutzen können. Mir erscheint es auch nicht sinnvoll, Transferleistungen wie die Rente an ein starres Lebensalter zu knüpfen. Selbstständige, die ja selbst entscheiden können, wie lange sie arbeiten wollen, entscheiden sich oft für einen späteren als den gesetzlichen Ruhestand, selbst wenn sie das aufgrund ihres Vermögens gar nicht nötig haben. Und darin sehe ich eine Lösung: Dass jeder frei entscheiden darf, in welchem Umfang und wie lange er Tätigkeit fortführen möchte und auch welche Art von Tätigkeit.

Einige Rentner arbeiten weniger aus Freude als vielmehr aus Notwendigkeit weiter.

LANG: Richtig. Viele Menschen müssen mit geringen Ersparnissen auskommen und damit ein langes Leben gestalten. Heute 65-Jährige leben durchschnittlich noch weitere 17 bis 21 Jahre. Wer einen hohen Lebensstandard erhalten will, braucht dafür die finanziellen Ressourcen. Deshalb sollten wir auch darüber diskutieren, wie wir die Arbeit der Älteren besser honorieren. Ich will nicht fordern, dass jede ehrenamtliche Tätigkeit angemessen vergütet wird. Aber wir sollten darüber nachdenken, wie nachberufliche Produktivität mehr Wertschätzung erfährt. Menschen müssen in ihrem Tun einen Sinn erkennen. Und dabei spielt auch ein angemessener Lebensstandard eine Rolle.

Studien zeigen, dass sich das Altersbild der Menschen positiv verändert hat. Hat das Alter seinen Schrecken verloren?

LANG: Ich halte das für eine tolle Entwicklung. Denn es ist gut belegt, dass eine positive Wahrnehmung vom Alter sich günstig auf die Gesundheit auswirkt. Problematisch wird es nur, wenn die Vorstellungen nicht zur Realität passen, wenn Menschen Belastungen leugnen und sich mehr zumuten, als sie verkraften. So gehen Männer aus Selbstüberschätzung auch im Alter manchmal höhere Risiken ein als Frauen. Zum gelingenden Älterwerden gehören aus meiner Sicht auch eine gewisse Demut, eine Form von Selbstbescheidung und etwas Realismus für das, was machbar ist.

Alt werden will jeder, aber niemand will alt sein. Gilt der Spruch heute noch?

LANG: Aus meiner Sicht schon. Viele Menschen empfinden die Verluste des Alterns oft als Belastung oder Bedrohung. Viele sagen: „Man ist so alt wie man sich fühlt“ und meinen damit, dass es schlecht sei, sich alt zu fühlen. Wie kann das sein? Wir müssen dahin kommen zu akzeptieren, dass Älterwerden immer auch Verluste mit sich bringt. Mich erschrecken manchmal die Fälle, in denen Menschen das Gute in ihrem Leben nur deswegen nicht haben wollen, weil es auch etwas Schlechtes gibt.