Ausstellung Ey Alter

04.10.2018

„Davon weg­kom­men, nur auf eine Alters­zahl redu­ziert zu wer­den“

Die Ausstellung „Ey Alter“ zeigt, dass Älterwerden vor allem Kopfsache ist. Projektleiterin Sylvia Hütte-Ritterbusch würde Altersangaben gern ganz abschaffen.

Frau Hütte-Ritterbusch, bevor man die Ausstellung Ey Alter betritt, muss man sich als Besucher für eine von zwei Eingangstüren entscheiden. Über der einen prangt das Wort „jung“, über der anderen „alt“. Was meinen Sie, ab wann sollte man sich bei „alt“ einordnen?

SYLVIA HÜTTE-RITTERBUSCH: Das muss niemand! Das ist genau der Kern der Ausstellung: Es gibt dafür keine Altersgrenze, sondern es ist eine ganz individuelle Entscheidung. Die Weltgesundheitsorganisation hat zwar einmal versucht, eine Klassifizierung darüber zu erstellen, ab wann man jemanden als „alt“ oder „hochaltrig“ bezeichnet. Aber aus meiner Sicht ist so etwas heutzutage überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Vor Kurzem war zum Beispiel eine Frau mit ihrem 98-jährigen Vater bei uns. Die beiden haben ganz bewusst beide Türen passiert. Weil er sich, wie sie meinte, schon manchmal alt fühlt, aber andererseits auch unbedingt mindestens 100 werden will. Wir hatten hier auch schon 30-Jährige, die sich nach einem anstrengenden Arbeitstag, bei „alt“ einordneten, und 70-Jährige, die ganz selbstbewusst und ohne mit der Wimper zu zucken bei „jung“ eintraten.

Alter ist also vor allem Ansichtssache?

HÜTTE-RITTERBUSCH: Absolut. Wir wollen hier ein bisschen provozieren, irritieren und die Besucher dazu auffordern, über ihr eigenes Alter, ihre eigenen Vorstellungen vom Alter nachzudenken. Letztendlich ist man so alt, wie man sich fühlt – aber auch so alt, wie einen das Umfeld macht. Jeder von uns hat Altersstereotype im Kopf, die oft unbewusst aktiviert werden und vor allem von der Gesellschaft geprägt sind. Aber letztendlich haben wir alle verschiedene Alter in uns. Der 70-Jährige ist manchmal wie 30 und der 30-Jährige fühlt sich vielleicht manchmal wie 70. Das wollen wir den Besuchern – ob jung oder alt – zeigen.

Mit welchen Klischees über das Älterwerden wollen Sie denn ganz besonders aufräumen?

Hütte-Ritterbusch: Das gängigste Vorurteil ist, dass Ältere nicht mehr so leistungsfähig sind, dass sie nichts Neues lernen können und wollen. Es geht immer irgendwie um Abbau, Verfall und Degeneration. Schauen Sie sich doch mal eine Apothekenzeitschrift an. Da wird häufig dargelegt, was alles nicht mehr geht.

Welcher Fakt, den Sie in der Ausstellung behandeln, hat Sie eines Besseren belehrt?

HÜTTE-RITTERBUSCH: Was mich überrascht hat, ist die Tatsache, dass sowohl Körper als auch Geist lebenslang leistungs- und lernfähig und auch trainierbar sind. Eine Mitmachstation beschäftigt sich zum Beispiel mit dem Thema Händedruck – ein Faktor, der durch medizinische Studien belegt mit Langlebigkeit in Verbindung steht. Wer also einen festen Händedruck hat, besitzt gute Chancen, lange zu leben. Und oft gibt es da 60- oder 70-jährige Besucher, die einen stärkeren Händedruck haben als so manch Mittzwanziger. Ich habe auch einen 90-Jährigen erlebt, der sich vor mir auf den Boden geworfen und Liegestütze gemacht hat. Sein Kommentar: Er mache jeden Tag mindestens 20 Stück und sei topfit. Alter bedeutet also nicht nur Abbauprozesse. Man kann mit der richtigen Einstellung und einem gesunden Lebensstil sehr prophylaktisch vorgehen.

Die Ausstellung wurde von Mercedes-Benz ins Leben gerufen und ist Teil einer großangelegten Demografie-Initiative Ihres Unternehmens. Es muss sich also auch der Blick auf den älteren Mitarbeiter ändern?

HÜTTE-RITTERBUSCH: Den demografischen Wandel sehen wir nicht als Schreckgespenst. Ich denke, wir können die Chancen, die sich aus dem Wandel ergeben, noch besser nutzen und auch noch mehr von den Fähigkeiten unserer erfahreneren Mitarbeiter profitieren.

Wie zum Beispiel?

HÜTTE-RITTERBUSCH: Unter anderem haben wir Mitarbeitern um die 50 angeboten, zusammen mit Jugendlichen nochmal eine Ausbildung zu machen. Die haben dann gemeinsam die Berufsschulbank gedrückt, mit allem Drum und Dran. Das kam bei beiden Altersgruppen total gut an. Auch haben erst kürzlich Ältere und Jüngere zusammen eine Videoplattform im Intranet aufgebaut. Erfahrene zeigen hier, wie Maschinen und Arbeitsabläufe funktionieren und verraten ihre Tricks und Kniffe. Altersgemischte Teams können extrem erfolgreich sein, wenn beide Seiten offen sind und ihre Stärken gleichmäßig einbringen können. Für den Wissenstransfer ist das total wichtig. Wir wollen sicher gehen, dass die Fähigkeiten der Älteren nicht verloren gehen. Deshalb sind uns Mitarbeiter auch nach dem Renteneintritt herzlich willkommen.

Wie funktioniert das?

HÜTTE-RITTERBUSCH: Sogenannte Senior Experts können auch im Ruhestand für bestimmte Projekte zurück ins Unternehmen kommen. Je nach Vorwissen moderieren sie Führungskräftetrainings, beraten zu Themen wie Personal oder Demografie oder unterstützen den technischen Bereich mit ihrer Ingenieursexpertise. Dieser Erfahrungsschatz ist uns unheimlich wichtig.

Und für die Menschen bedeutet es, wieder aktiv und gefragt zu sein.

HÜTTE-RITTERBUSCH: Ja, da sollte man nicht unterschätzen. Wie gut bin ich in mein Umfeld eingebettet? Wie stark werde ich noch gebracht? Sehen mich andere als alt? Auch das beeinflusst unseren Alterungsprozess. Es gibt da ein beeindruckendes Experiment der amerikanischen Sozialpsychologin Ellen J. Langer, das wir auch in der Ausstellung aufgreifen. 1979 hat sie ältere Männer eine Zeit lang in ein Kloster gesteckt.

Das Innere war dort so gestaltet, als wären sie im Jahr 1959, mit Zeitungen, Musik und Möbeln von damals. Die Aufgabe: Sie sollten sich zurückversetzen in diese Zeit, als sie noch jünger waren. Danach wurden medizinische Tests gemacht – und siehe da: Die Männer waren besser drauf als vorher. Die Beweglichkeit ihrer Gelenke war besser, sie schnitten bei Intelligenztests besser ab. Das zeigt, wie stark das alles Kopfsache ist und wie stark einen das Umfeld, in dem man sich bewegt, beeinflusst.

Was wünschen Sie sich: Mit welchem Gefühl sollten jüngere und ältere Besucher Ihre Ausstellung verlassen?

HÜTTE-RITTERBUSCH: Die Älteren sollten mit einem gewissen Stolz gehen. Mit der Erkenntnis, dass sie schon viel geleistet haben, aber auch, dass sie durchaus noch viel leisten können. Und die Jüngeren sollten sich sagen: ‚Ach Mensch, das Älterwerden ist ja eigentlich gar kein Thema, das unangenehm ist. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht uncool erscheint: Wenn man sich früh damit auseinandersetzt, kann auch im Alter noch einiges passieren!‘

Wie ist es denn bei Ihnen persönlich: Graut es Ihnen vom Älterwerden oder sind Sie eher gelassen?

HÜTTE-RITTERBUSCH: Ich denke, da geht es mir wie vielen Ausstellungsbesuchern: Ich fühle mich in der Regel jünger als ich bin und freue mich natürlich immer, wenn mich jemand jünger schätzt. Ich habe schon viel gemacht und erlebt, aber da ist immer noch Lust auf mehr. Deshalb wäre es schon schön, mindestens 99 Jahre alt zu werden – und somit fast noch einmal so lange, wie ich bisher gelebt habe.

Und einige Menschen, die dieses Interview lesen, haben tatsächlich die Chance, so alt zu werden. Durch die steigende Lebenserwartung deutlich mehr als früher.

HÜTTE-RITTERBUSCH: Ich glaube, Alter wird in Zukunft total zur Normalität. Ein hohes Alter zu erreichen – da wird es nicht mehr dieses „Oha, so alt? Ach, das ist ja erstaunlich!“ geben. Statt auf das Alter zu schauen, wird man mehr fragen, was das für ein Mensch ist, was er kann, was ihn umtreibt. Sollte ich später mal in einem Zeitungsartikel erwähnt werden, fände ich es schöner, wenn ich mit „Sylvia Hütte-Ritterbusch (Weltreisende und Kreative)“ vorgestellt werden und nicht mit „Sylvia Hütte-Ritterbusch (70)“. Nur auf eine Alterszahl reduziert zu werden – davon sollten wir allgemein wegkommen.

Die Ausstellung „Ey Alter“

Die interaktive Ausstellung „Ey Alter – Du kannst dich mal kennenlernen“ hat das Ziel, unsere Vorstellungen über das Altern zu hinterfragen und zu zeigen, dass sowohl in Jung und Alt große Chancen liegen. Im Vordergrund stehen 20 Mitmachstationen, an denen man seine verschiedenen Potenziale erkunden kann. Das reicht von der Reaktionsfähigkeit bis zur Lebenserfahrung. Anschließend können Besucher in fünf Themenbereichen erleben, was unser Denken über Alt und Jung bestimmt und wie persönliche Potenziale in Teams mit unterschiedlichen Generationen eingebracht werden können. Beispielsweise können Besucherinnen und Besucher hier einen Alters-Check zum biologischen-, sozialen-, gefühlten- und Erfahrungsalter durchführen.

Die Ausstellung ist nach Ideen und auf Initiative von Mercedes-Benz entstanden und Teil der Demografie-Initiative „YES – Young and Experienced together Successful“.