Lebenserwartung in Ost und West

27.09.2021

„Bei der Lebens­er­war­tung sind Ost und West stark zusam­men­ge­wach­sen“

In puncto Lebenserwartung liegen Ost und West gut 30 Jahre nach der Wiedervereinigung fast gleichauf, sagt Demograf Sebastian Klüsener. Allerdings tun sich neue Unterschiede auf.

Herr Dr. Klüsener, Sie wurden 1975 in Gütersloh geboren. Was unterscheidet Sie in Bezug auf die Lebenserwartung von einem Mann, der im selben Jahr in Magdeburg auf die Welt kam?

Sebastian Klüsener: Nicht mehr allzu viel. Mein Jahrgang ist eine Art Schnittstelle: Wer damals im Osten geboren wurde, war beim Fall der Mauer ein Jugendlicher. Dadurch war mein Geburtsjahrgang in Ostdeutschland noch in gewissem Maße von den wirtschaftlichen Verwerfungen der Nachwendezeit betroffen und wurde zum Teil mit Unsicherheiten beim Eintritt in den Arbeitsmarkt konfrontiert. Das hat ein Stück weit bis heute Auswirkungen auf die Sterblichkeit. Eine „Wende“ bei der Lebenserwartung markiert in etwa das Jahr 1985. Wer ab da im Osten Deutschlands geboren wurde, konnte von guten wirtschaftlichen Bedingungen profitieren – und scheint bisher ohne nennenswerte Unterschiede durchschnittlich genauso alt zu werden wie Westdeutsche seiner Generation. Auch bei der Lebenserwartung sind Ost und West also stark zusammengewachsen.

Wie sah es denn 1990 aus?

Klüsener: Damals bestanden noch erhebliche Unterschiede. Ostdeutsche Frauen verzeichneten eine Lebenserwartung von 76,3 Jahren bei Geburt – 2,7 Jahre weniger als westdeutsche Frauen mit 79,0 Jahren. Die Männer trennten sogar 3,4 Jahre. Im Osten wurden sie im Schnitt 69,2, im Westen 72,6 Jahre alt.

Woran lag das?

Klüsener: Hauptsächlich an der sogenannten „kardiovaskulären Revolution“, also den Fortschritten bei der Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen seit Anfang der 1970er-Jahre. Der Knackpunkt: Diese Revolution vollzog sich vor allem im Westen. Monitoring-Systeme wie das EKG wurden verstärkt eingeführt, Herzschrittmacher kamen prophylaktisch zum Einsatz, Rettungskräfte waren schneller bei Herzinfarktpatienten, weil man die Notfallversorgung ausbaute und so die Einsatzzeiten verringerte.  Viele frühzeitige Sterbefälle konnten dadurch vermieden werden. Natürlich wurde hier auch im Osten investiert. Aber aufgrund mangelnder Ressourcen nicht in dem Maße wie im Westen. Das beeinflusste die Lebenserwartung massiv: Die großen Unterschiede zwischen Ost und West sind erst in den letzten 20 Jahren der deutsch-deutschen Teilung entstanden. Davor gab es kaum Differenzen.

Die Wiedervereinigung ist nun 31 Jahre her. Muss man, was die Lebenserwartung betrifft, noch die Trennung nach „Ossi“ und „Wessi“ machen?

Klüsener: Betrachtet man die Frauen, dann ganz klar: nein. Hier gab es eine starke Angleichung, die seit einigen Jahren abgeschlossen ist. Sowohl ost- als auch westdeutsche Frauen werden durchschnittlich rund 83 Jahre alt. Ein Hauptgrund für das Aufholen der ostdeutschen Frauen ist das Rauchen. Denn während im Westen viele Frauen im Zuge der 68er-Bewegung damit angefangen haben, war das bei den Frauen in der DDR weitaus seltener der Fall. Dadurch ist ihre lungenkrebsbedingte Sterblichkeit aktuell viel geringer.

Und bei den Männern?

Klüsener: Auch hier sind die Ost-West-Unterschiede deutlich gesunken, vor allem in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Wende. Allerdings gibt es noch immer eine Lücke von mehr als einem Jahr. Im Osten liegt die Lebenserwartung bei Geburt bei 77,7 Jahren, im Westen bei 78,8 Jahren.

Wie lässt sich diese Lücke erklären?

Klüsener: Die Lücke erklärt sich überwiegend aus einer höheren Sterblichkeit in der Generation der zwischen 1960 und 1975 geborenen Personen. In dieser Generation gibt es besonders viele Personen, die durch die Wiedervereinigung und den Transformationsprozess mit wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert waren. Diese Folgen zeigen sich bei diesen noch relativ jungen Personen bereits jetzt in der Sterbestatistik. Und besonders betroffen sind Männer.

Aber ostdeutschen Frauen ging und geht es doch ähnlich, oder?

Klüsener: In der Forschung gibt es zahlreiche Belege, dass Krisensituationen auf die Gesundheit und Sterblichkeit von Frauen anders wirken als bei Männern. So verzeichnen Männern häufig einen größeren Anstieg der Sterblichkeit als Frauen. Bei Frauen äußern sich die Folgen eher in Verschlechterungen im Gesundheitszustand, die aber seltener direkt zum Tod führen. Zudem sind die gesellschaftlichen Erwartungen an Männer und Frauen zum Teil ganz andere. Häufig wird dem Mann die Rolle des Ernährers zugeschrieben, der aber viele Anfang der 1990er Jahre nicht gerecht werden konnten. Dieser Druck hat bei Männern unter anderem auch zu einem erhöhten Alkoholkonsum beigetragen.

Wenn die Mauer nicht gefallen wäre, was glauben Sie, hätte das für die Lebenserwartung speziell der Menschen im Osten bedeutet?

Klüsener: Hierdurch hätte sich die wirtschaftliche Rückständigkeit Ostdeutschlands wahrscheinlich weiter verstärkt, so dass die Lebenszeit-Lücke noch einmal deutlich größer geworden wäre. Die gewaltige Bedeutung der Wende sieht man auch an den Älteren: Selbst 90- oder 95-jährige DDR-Bürger haben von ihr profitiert. Denn ihre Sterblichkeit reduzierte sich – genau ab 1990. Heute sind die Unterschiede nicht mehr unbedingt eine Frage von Ost und West. Allerdings gibt es sie noch, man muss jedoch kleinteiliger hinschauen.

Wie meinen Sie das?

Klüsener: In strukturschwachen Regionen leben die Menschen nicht so lange wie in Regionen, denen es wirtschaftlich gut geht. Zudem gibt es in Deutschland enorm große Differenzen, wenn man sozioökonomische Faktoren betrachtet. So haben Personen mit niedrigem Bildungsniveau eine deutlich geringere Lebenserwartung als Personen mit einem höheren.

Was müsste getan werden, um auch diese Lücken verstärkt zu schließen?

Klüsener: Ein gutes Beispiel ist das Thema Migration. Viele Zuwandernde haben einen Gesundheitsvorsprung. Denn generell ist die Bevölkerung, die zuwandert, gesünder als die, die hier lebt. Dies hängt damit zusammen, dass sich gesunde Personen eher zutrauen, in ein anderes Land zu ziehen. Viele verlieren diesen Gesundheitsvorsprung jedoch wieder, indem Hindernisse wie die Sprache den Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem erschweren. Als Folge haben diese Personen im Alter dann oft eine geringere Lebenserwartung. Auf die Allgemeinheit bezogen heißt das: Man muss schon in frühen Phasen des Lebens präventiv einwirken und für mehr Gleichheit sorgen. Durch bessere Bildungschancen und gesundheitliche Aufklärung zum Beispiel. Gute Bedingungen – schon in der Kindheit – ermöglichen, dass Personen später gut altern.

Aber alles lässt sich sicher nicht „von oben“ steuern. Als Erwachsener ist doch jeder für seine Gesundheit auch ein Stück weit selbst verantwortlich.

Klüsener: Absolut, man kann niemanden zwingen, sich gesund zu ernähren und auch anderweitig sein Leben risikoarm zu gestalten. Allerdings hat das Folgen. So wissen wir, dass nach der Wende viele Frauen im Osten mit dem Rauchen angefangen haben und dass bei den unter 45-Jährigen dort schon heute mehr Frauen rauchen als im Westen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Lebenserwartung der Frauen in Ostdeutschland zukünftig wieder hinter die der Frauen in Westdeutschland zurückfallen wird.

Bezweifeln Sie also, dass sich der Trend zur steigenden Lebenserwartung in Zukunft fortsetzt?

Klüsener: Nein, nicht wirklich. Denken wir nur an die Behandlung bestimmter Krebsarten. Wenn hier weiterhin Fortschritte erzielt werden, kann das nochmal zu einer enormen Verbesserung bei der Lebenserwartung führen. Auch ländliche oder eher strukturschwache Räume werden zukünftig von technischen Innovationen profitieren. Autonome Mobilität könnte dort die Versorgung verbessern; neue Möglichkeiten wie Homeoffice könnten diese Gebiete speziell für Hochgebildete, die generell eine höhere Lebenserwartung haben, wieder attraktiv machen. Natürlich sind Prognosen immer schwierig, aber ich bin optimistisch, dass die Lebenserwartung generell weiter steigen wird – sowohl in West als auch in Ost.