Dokumentation über Altersbilder

18.09.2017

"Wir müs­sen ler­nen zu dif­fe­ren­zie­ren"

Für ihr Filmprojekt „Living longer“ habe Brigitte Weidmann und Julien Biere junge und alte Menschen zum Thema Älterwerden interviewt. Die Antworten zeigen: „den klassischen Alten“ gibt es nicht.

Herr Biere, wie sind Sie eigentlich auf die Idee für ihr Projekt gekommen?

JULIEN BIERE: Ich habe früher audiovisuelle Medien produziert und war lange als Medienberater und – produzent tätig. Mit dem Eintritt ins Rentenalter wollte ich meine Berufserfahrung endlich einmal für ein Thema zu Hause einsetzen, ohne Auftrag. Und vor allem für ein Thema, das mich persönlich berührt: meine eigenen Erfahrungen mit dem Älterwerden. Brigitte Weidmann, mit der ich seit zwei Jahrzehnten zusammenarbeite, war sofort von der Idee überzeugt. Fortan wurde es unser gemeinsames Altersprojekt – im doppelten Sinne.

Was hat Sie bei den Antworten der Älteren besonders überrascht?

BRIGITTE WEIDMANN: Die ungeheure Offenheit! Zum Beispiel hatten wir am Anfang Befürchtungen, ob wir mit unserer Frage nach Sexualität und Erotik nicht doch zu weit gingen. Doch ganz im Gegenteil: Manche sprachen das Thema von sich aus an.

BIERE: Ungeheuer auch die Offenheit in Bezug zu Geld und Eigentum oder zur Frage, wie sie heute ihre Eltern sehen, und wie sie auf den Tod blicken.

Was sagen denn die Älteren übers Älterwerden?

BIERE: Was Sexualität und Erotik angeht, können wir drei Gruppen unterscheiden. Die einen haben sich von der Sexualität verabschiedet, gewollt oder ungewollt. Eine zweite Gruppe sagt, Sex sei nicht mehr so wichtig, der Drang lasse nach, und im Alter seien Zärtlichkeit und Sich-Zeit-Nehmen, kurz: Qualität an die Stelle von Quantität getreten. Und dann gibt es eine dritte, kleinere Gruppe, die bis ins hohe Alter sexuell orientiert und aktiv ist.

WEIDMANN: Zur Bedeutung von Geld und Eigentum: Die meisten sagen, dass Geld schon wichtig sei, und die diejenigen, die über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, sind sich ihrer privilegierten Situation durchaus bewusst. Und die anderen fühlen immer eine gewisse Existenzangst, insbesondere Selbständige und Freiberufler, weil sie oft nicht genügend vorgesorgt haben.

Und was ist Ihnen bei den Jüngeren aufgefallen?

BIERE: Positiv der Respekt vor den Älteren und die Wertschätzung ihrer Leistung. Das hatte ich so nicht erwartet. Negativ überrascht hat mich, dass junge Erwachsene offenbar gar keinen Umgang mit älteren Menschen im Alltag haben – abgesehen von ihren Großeltern. Die Alten sind irgendwie außerhalb ihrer Leben.

Blicken Jung und Alt unterschiedlich auf das Alter?

BIERE: Auf ihr eigenes Alter blicken die Älteren mit wenig Sorgen. Aber sie schauen mit großer Sorge in die Zukunft, was die gesellschaftliche, politische Entwicklung anbelangt. Und sie befürchten – nicht anders als die Jüngeren –, dass die jüngere Generation es nicht mehr so einfach haben wird.

Das Altersbild ist oft von Stereotypen wie der strickenden Oma in Beige geprägt. Nach Ihren Erfahrungen mit „Living Longer“: Was muss sich am öffentlichen Meinungsbild ändern?

BIERE: Vor allen Dingen müssen wir wegkommen, immer von „den Alten“ zu reden und ständig unzulässig zu verallgemeinern – insbesondere in den Medien. Wir müssen lernen zu differenzieren. Und dafür leistet die aktuelle SINUS-Studie zu den Rentnertypologien einen richtungsweisenden Beitrag.

WEIDMANN: Die strickende Oma ist ja nur das eine. Es gibt auch neue Klischeebilder in den Fotodatenbanken, die ich nicht mehr ertragen kann: die kitschigen, unglaubhaften „Silver Ager“-Paare im Frühlingslicht. Ich glaube, wir Fotografen und Medienkünstler können einen Beitrag dazu leisten, das Bild des Alters zu revidieren, ein ehrliches Bild des Alters zu schaffen. Ich habe mir ein neues Fotoprojekt dazu vorgenommen.

Wie hat „Living Longer“ Ihr eigenes Leben verändert?

WEIDMANN: Nach jedem Interview haben wir neue Dimensionen des Älterwerdens erfahren, nach jedem Dreh hatten wir eine schlaflose Nacht. Das Leben unserer Protagonisten mit all seinen Facetten – zum Beispiel auch Krankheit und Schicksalsschlägen – hat uns tief bewegt.

BIERE: Zum einen ist uns die zunehmende Bedeutung von Beziehungen im Alter deutlich geworden, die Familie, aus der man stammt, die Freunde und die Nachbarschaft. Wie wichtig es ist, hierin zu investieren, mit seinen Eltern Frieden zu schließen, seine Freundschaften nie zu vernachlässigen und sich um gute Nachbarschaftsbeziehungen zu kümmern. Und Geld allein macht nicht glücklich, klar, aber ohne Geld kann kein Alter glücklich sein.

Über das Projekt „Living Longer“

„Living longer“ ist ein filmisches Forschungsprojekt zum demografischen Wandel: Nicht-inszenierte, authentische Interviews, die durch außergewöhnliche Nähe und Aufrichtigkeit emotional berühren, zum Nachdenken und zum Gespräch anregen. Aus insgesamt 33 Stunden Filmmaterial schnitten Brigitte Weidmann und Julien Biere einen knapp 90-minütigen Dokumentarfilm zusammen.