Lebenserwartung steigt

29.10.2015

„Viel­leicht wer­den wir ein­mal 200 Jahre alt“

Jeden Tag steigt die Lebenserwartung in Deutschland um gut sechs Stunden. Ein Ende des Trends ist nicht in Sicht.

© romrodinka / Getty Images

Heute geborene Mädchen werden im Schnitt 90 Jahre alt.

Dass die Deutschen immer älter werden, weiß Frank-Walter Steinmeier nur zu gut. Denn zu seinen vielen Aufgaben gehört es auch, Hundertjährigen per Brief zu ihrem Geburtstag zu gratulieren. Doch was vor Jahrzehnten noch eine Nebenbeschäftigung für einen Bundespräsidenten und seine Mitarbeiter war, beansprucht inzwischen immer mehr Zeit. 6611 Glückwunschschreiben verschickte  das Bundespräsidialamt 2014, als noch Joachim Gauck Staatsoberhaupt war. 50 Jahre zuvor erhielten gerade einmal 158 Jubilare Post vom ersten Mann des Staates.

Dies zeigt: Ein 100. Geburtstag, der früher eben selten und Anlass für eine besondere Ehrung war, wird immer gewöhnlicher. Denn die Lebenserwartung in Deutschland hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mehr als verdoppelt. Ein neugeborenes Mädchen hat laut aktueller Generationensterbetafel des Statistischen Bundesamtes inzwischen eine durchschnittliche Lebenserwartung von 90,7 Jahren, Jungen werden im Schnitt 86,4 Jahre alt. James W. Vaupel, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, ist sogar noch optimistischer: „Jedes zweite Kind, das heute geboren wird, erlebt seinen 103. Geburtstag.“

Viele Faktoren heben Lebensalter an

Ohne die Hilfe seiner Mitarbeiter könnte der Bundespräsident die Glückwunschpost nicht mehr bewältigen.

​​​​​​​Die Gründe, warum die Menschen immer länger leben, sind vielfältig. „Wir ernähren uns ausgewogener, treiben mehr Sport, rauchen weniger, haben eine isolierte Wohnung und warme Kleidung, eine bessere medizinische Versorgung und eine höhere Bildung. Wir leben gesünder“, sagt Vaupel. Auch die Arbeitsbedingungen haben sich über die Jahrzehnte stark verbessert.

Entscheidend ist aber vor allem der medizinische Fortschritt: Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch zu den häufigsten Todesursachen zählten, sind in der westlichen Welt mittlerweile nahezu verschwunden. Herz- und Kreislauferkrankungen oder Krebs, auf die heute die meisten Todesfälle zurückzuführen sind, können inzwischen besser behandelt werden. Vor 1980 starben mehr als zwei Drittel aller Krebspatienten an ihrer Erkrankung, heute kann mehr als die Hälfte auf eine vollständige Heilung hoffen. „Es ist uns gelungen, den vorzeitigen Tod zurückzudrängen“, sagt Wolfgang Lutz, Direktor des Vienna Institute of Demography. „Und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.“

Lebenserwartung steigt in Zukunft weiter

Mit jedem Tag steigt die Lebenserwartung um gut sechs Stunden. Eine 1973 geborene Frau, die 2040 mit 67 Jahren in Rente gehen wird, hat dann nach der optimistischsten Prognose des Statistischen Bundesamtes noch durchschnittlich 22,8 Lebensjahre vor sich. Ihre Tochter, Jahrgang 2000 wird bei Rentenbeginn 2067 sogar weitere 24,9 Jahre erwarten können. Der Prognose liegt die Annahme zugrunde, dass sich die medizinische Versorgung nochmals verbessert und damit vor allem das Sterberisiko im hohen Alter weiter absinkt.

Das erscheint durchaus realistisch. Denn die Medizin macht weiter große Fortschritte. So fahnden Forscher seit Langem nach den Ursachen für das Altern der Zellen. Ihr Ziel: Therapien zu entwickeln, die den Alterungsprozess verlangsamen. Andere Wissenschaftler beschäftigen sich damit, defektes Gewebe mit körpereigenem Material zu reparieren. Sie wollen eines Tages Stammzellen in jede beliebige Zellsorte umprogrammieren können. So bekäme jeder Mensch quasi ein eigenes Ersatzteillager für seinen Körper. Wie weit der medizinische Fortschritt die Altersgrenze hinauszuschieben vermag, ist völlig offen. „Ein Limit ist derzeit nicht bekannt. Vielleicht werden wir einmal 200 Jahre alt“, sagt Vaupel.

Um den Arbeitsaufwand zu begrenzen, dürfte einer von Steinmeiers Nachfolgern wohl eines Tages die Altersgrenze für Glückwunschschreiben nach oben setzen – wie auch schon in der Vergangenheit geschehen. So erhielten bis 1965 selbst die 95-Jährigen eine Gratulation von höchster Stelle. Was damals als gesegnetes Alter galt, könnte schon bald die 110 sein.