Langzeitprojekt

18.12.2017

„Deutsch­land könnte von Gag­genau ler­nen, län­ger zu leben“

In der badischen Stadt wollen Forscher das Leben der Einwohner verlängern. Was das Schullicht damit zu tun hat, erklärt Projektleiter Joachim E. Fischer.

Herr Professor Fischer, vor rund zwölf Monaten haben Sie das Projekt „Ein gutes Jahr mehr“ in Gaggenau gestartet. Wird in acht Jahren jeder Einwohner ein Jahr länger leben?

JOACHIM E. FISCHER: Wir werden „das gute Jahr mehr“ nicht für jeden Bürger der Stadt erreichen. Bei einer Person meines Alters und Standes – Professor, Akademiker, Zugang zu allen Ressourcen – wird leider nicht viel dabei herauskommen. Meine Lebenserwartung ist unter diesen Voraussetzungen schon hoch. Wenn wir aber die Lebenserwartung von Kindern alleinerziehender Mütter mit Migrationshintergrund um fünf Jahre verlängern können, haben wir viel erreicht. Und so könnten wir im Durchschnitt auf das eine Jahr mehr kommen.

Das Ziel ist ambitioniert. Wie wollen Sie es erreichen?

FISCHER: Die Faktoren für ein langes Leben sind vielfältig und betreffen alle Bereiche des Alltags. Mit diesem Ansatz unterscheiden wir uns wesentlich von anderen Programmen, die meist nur ein isoliertes Problem – eine bestimmte Krankheit oder ein Gesundheitsrisiko wie Rauchen – ins Visier nehmen. Mit unserem Projekt gehen wir das Ziel „längeres Leben“ ganzheitlich an. Die Maßnahmen sollen alle Lebensbereiche der Gaggenauer betreffen und die gesamte Lebensspanne abdecken –  vom Säugling bis hin zum Greis.

Was heißt das konkret?

FISCHER: Wir beginnen bei der Geburt eines Menschen und fragen uns, wie die ersten drei Lebensjahre verlaufen müssen, um den Grundstein für ein langes Leben zu legen. Dazu wollen wir existierende Netzwerke für Eltern besser untereinander verknüpfen. So kann gegebenenfalls Familien ganz gezielt zusätzliche Unterstützung angeboten werden. Im Kindergarten stellt sich die Frage, wie wir Kinder auf eine erfolgreiche Schulzeit vorbereiten. Viel erreicht man schon durch mehr Bewegung und bessere Ernährung. In der Schule setzen wir aber auch auf stärkeres Licht, um letztlich die Lebenserwartung zu erhöhen.

Was hat denn das Schullicht mit der Lebenserwartung zu tun?

FISCHER: Stärkeres Licht in der Schule erhöht die Konzentration. Diese steigert die Chance auf einen guten Schulabschluss, der wiederum eine gute weiterführende Bildung ermöglicht, den Jobeinstieg erleichtert. Und der berufliche Erfolg erhöht letztlich die Lebenserwartung. Ich bin mir sicher, dass dieser Effekt messbar ist.

Wie sieht es mit dem Berufsleben aus? Haben Sie auch dafür Pläne?

FISCHER: Auch in der Arbeitswelt gibt es viele Stellschrauben. Das fängt beim Arbeitsschutz an und reicht bis zur Arbeitsplatzgestaltung: Wenn man die Arbeitsbedingungen so verändert, dass die Mitarbeiter gern zur Arbeit gehen, bleiben sie automatisch gesünder. Für mehr Bewegung könnte zum Beispiel eine aktive Pause im Betrieb eingeführt werden. Gesünderes Essen in der Kantine kann eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten auslösen. Das zahlt alles auf die Gesundheit und damit auf eine höhere Lebenserwartung ein.

Was bringt ihr Projekt den Menschen, die schon im Ruhestand sind?

FISCHER: Bei alten Leuten ist die Einsamkeit ein sehr bedeutsamer Risikofaktor. Dagegen geht die Kommune bereits vor. Es wurde gezielt die Kantine der Schule mit der des Altenheims zusammengelegt. Ich bin überzeugt, dass diese sozialen Kontakte mit Jüngeren die Lebenserwartung der Senioren messbar erhöhen.

Wie viele Vorhaben haben Sie insgesamt schon umgesetzt?

FISCHER: Unsere erste Aufgabe war und ist es zunächst, ganz Gaggenau mit an Bord zu bekommen: also Politik, Wirtschaft, aber auch die Bürgerinnen und Bürger selbst. Dieser erste Schritt ist zeitintensiv, aber auch unerlässlich für die Planung. Die Umsetzung erster Projekte soll nun folgen.

Wie sind Sie eigentlich auf die Idee für das Projekt gekommen?

FISCHER: Das große Vorbild ist das finnische Nordkarelien-Projekt, das im Jahr 1972 gestartet wurde. Die Bevölkerung dort war so stark von kardiovaskulären Krankheiten betroffen wie kaum eine andere Region in Europa. Um dagegen vorzugehen, ergriffen die Forscher kreative Maßnahmen. So wurde der hohe Fleischanteil im traditionellen Eintopf reduziert und durch Gemüse ergänzt. Auch die Förderung des lokalen Beerenanbaus sollte auf die Gesundheit einzahlen. Mit Erfolg: Heute liegt die Lebenserwartung dort über dem europäischen Durchschnitt.

Skandinavien liegt weit von Baden-Württemberg entfernt. Warum ausgerechnet Gaggenau?

FISCHER: Die Idee war, Nordkarelien in der Gegenwart und in der Bundesrepublik umsetzen. Durch Zufall lernte ich den Chef des größten Arbeitgebers in Gaggenau, Daimler, kennen. Und so kam es auch zu einem Gespräch mit dem Oberbürgermeister.

Ist Gaggenau nicht ein schwieriges Terrain? Die Lebenserwartung ist hier ja selbst für Deutschland besonders hoch…

FISCHER: Ja, das ist richtig. Aber auf der anderen Seite ist es von Vorteil, dass wir das Experiment in einer sehr engagierten und auch repräsentativen Stadt durchführen, die bereit ist, das Projekt mit eigenen Mitteln zu unterstützen und zudem einen großen Arbeitgeber hat, der das Projekt ebenfalls unterstützt. Letztlich wollen wir erreichen, dass andere Orte von unseren Ergebnissen und Erfahrungen profitieren. So könnte Deutschland von Gaggenau lernen, länger zu leben.

Das Projekt „Ein gutes Jahr mehr“

Welche Lebensumstände ermöglichen ein besonders hohes Alter? Das versuchen Wissenschaflter mit dem 2016 gestarteten Langzeitexperiment „Ein gutes Jahr mehr“ herauszufinden. Dafür haben sie sich die baden-württembergische Kleinstadt Gaggenau ausgesucht. Im Fokus stehen Maßnahmen in Kindertagesstätten, Schulen, Betrieben und Einrichtungen für Ältere, die die Lebensqualität so verbessern, dass allen Einwohnern im Schnitt ein Jahr länger leben.

Hinter dem Projekt stehen die Uni-Kliniken in Mannheim und Tübingen sowie das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Projektleiter ist Prof. Dr. Joachim E. Fischer, seit 2006 Leiter des Mannheimer Instituts für Public Health an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Das Land Baden-Württemberg unterstützt das Projekt mit rund 350.000 Euro jährlich.