Regionale Lebenserwartung

18.05.2020

Darum leben Men­schen im Süd­wes­ten am längs­ten

Die Baden-Württemberger werden am ältesten. Das liegt aber weniger am Klima als an der starken Wirtschaft, die viele gut Gebildete anlockt. Sie treiben die durchschnittliche Lebenserwartung nach oben.

© thelinke / Getty Images

Der Südwesten Deutschlands ist bekannt für den Weinanbau. Der Konsum des Rebensafts bringt aber wohl keine zusätzlichen Lebensjahre.

Auch Statistiker haben Humor: Immer, wenn Anrufer darüber rätseln, warum denn gerade die Menschen im Südwesten so alt werden, dann hat Ivar Cornelius eine ganz einfache Erklärung: „Wir haben hier den Trollinger“, scherzt der Referatsleiter im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg.

Doch natürlich gibt es auch ernsthafte Gründe, warum im südwestlichsten Bundesland die Lebenserwartung neugeborener Mädchen mit 83,9 Jahren bundesweit am höchsten ist – fast zwei Jahre höher als beispielsweise im Saarland, dem Schlusslicht im Bundesländer-Ranking: „Baden-Württemberg ist ein Land mit hoher Zuwanderung“, erzählt Cornelius.

Bevölkerungsmix bestimmt regionale Lebenserwartung

Neugeborene Mädchen in Baden-Württemberg haben knapp zwei Jahre mehr zu erwarten als im Saarland.

Denn nicht die vielen Sonnentage am Oberrhein oder die gute Luft im Schwarzwald sind dafür verantwortlich, dass die Lebenserwartung im Südwesten am höchsten liegt. Entscheidend ist vor allem die Wirtschaftskraft der Region. Sie lockt viele Akademiker und ihre Familien an. Diese sogenannten Vorreiter einer Gesellschaft – das belegen Studien – leben einfach gesünder als der Durchschnitt der Bevölkerung: Sie ernähren sich besser, treiben öfter Sport und gehen häufiger zum Arzt. Und mit ihrer gesünderen Lebensweise treiben sie die durchschnittliche Lebenserwartung insgesamt nach oben.

„Es kommt bei der regionalen Lebenserwartung sehr stark auf die Komposition der Bevölkerung an“, sagt Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. „Personen mit höherer Bildung haben eine deutlich höhere Lebenserwartung, und diese ziehen eher nach München als in die Provinz.“ Deshalb falle die Lebenserwartung in vielen boomenden Städten höher aus als zum Beispiel in Umbruchsregionen wie Bremerhaven und Wilhelmshaven. „Viele Studien belegen, dass der wirtschaftliche Entwicklungsstand für Trends in der regionalen Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger geworden ist“, so Klüsener.

Kulturelle Unterschiede haben an Bedeutung verloren

Früher spielten noch kulturelle Unterschiede eine bedeutende Rolle. Anfang des 20. Jahrhunderts war die hohe Säuglingssterblichkeit einer der größten Einflussfaktoren auf die Lebenserwartung. Während in Bayern um 1910 jedes vierte Neugeborene im ersten Lebensjahr starb, war es in Norddeutschland nur jedes zehnte. Der wesentliche Grund: „Im Norden wurden mehr Kinder gestillt“, erklärt Demografie-Forscher Klüsener. Heute haben regionale Unterschiede beim Stillen keinen direkten Einfluss mehr. Und das Nord-Süd-Gefälle bei der Lebenserwartung hat sich umgekehrt – dank der Wirtschaftsstärke Bayerns und Baden-Württembergs.

Insgesamt sind die regionalen Unterschiede in der Lebenserwartung jedoch nicht mehr so groß wie früher. „Mittlerweile haben sich viele Faktoren weitestgehend angeglichen und viele kulturelle Einflüsse an Bedeutung verloren“, sagt Cornelius. Die letzte große Angleichung gab es nach der Wiedervereinigung. 1995 lebten die Menschen in den alten Bundesländern noch durchschnittlich eineinhalb Jahre länger als in den neuen. Inzwischen ist die Differenz auf wenige Monate geschrumpft – dank des seit 1990 ausgebauten Gesundheitssystems im Osten. In der DDR war die medizinische Versorgung schlechter als in der BRD, etwa bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Opfer eines Herzinfarkts hatten im Westen bessere Überlebenschancen, und das hatte massive Auswirkungen auf die Lebenserwartung.

Einfluss regionaler Faktoren schwer messbar

Bis heute fällt es Demografen jedoch schwer, den Einfluss regionaler Faktoren wie Klima oder Essgewohnheiten auf die Lebenserwartung vor Ort genau zu bestimmen. Ihre Statistiken beruhen auf lokalen Sterbedaten, die stark von Migrationsbewegungen beeinflusst werden: Ein gebürtiger Hamburger zieht in seinem Leben vielleicht nach München, um seine letzten Lebensjahre im Umland der bayerischen Landeshauptstadt zu verbringen, wo er schließlich in der Sterbestatistik auftaucht. Um bestimmen zu können, wie stark regionale Faktoren das Lebensalter beeinflussen, müssten alle Umzüge berücksichtigt werden. „Dafür bräuchten wir eine Langzeitbeobachtung“, erklärt Klüsener.

Die Forscher haben aber schon Mühe zu bestimmen, wo die Menschen überhaupt geboren wurden. Die Baden-Württemberger dürfen also bis auf weiteres auf ihr Nationalgetränk schwören: den Trollinger.